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Foto: Torsten Hampel

© picture alliance / dpa

Berlin: Die Plus-Gemeinde

Im Havelland passiert etwas Ungewöhnliches: Eine Kommune kommt ohne Kredite aus. Mit Reichtum hat das aber nichts zu tun.

Meyer fährt wieder durchs Dorf. Im Geländewagen sitzend, sieht er nach dem Rechten, Meyer, der am gleichen Tag vor 15 Jahren die Wahl zum Dorfbürgermeister gewann wie Gerhard Schröders SPD die zum Bundestag. Im Gegensatz zu jenem Kanzler ist er aber immer noch im Amt, zuletzt wiedergewählt mit 80 Prozent der Stimmen, obwohl seine Amtszeit mindestens ebenso reich ist an Zumutungen fürs Volk wie es zuletzt und nach landläufiger Meinung unter Schröders Regierung war.

Bürgermeister Christian Meyer verteilt keine Wohltaten, er spart. Er und seine acht Gemeindevertreter geben nur das Geld aus, das sie auf dem Konto haben. „Kredite“, sagt Meyer, „ich wüsste nicht mal, wofür.“ Er und die acht anderen stehen dem Dorf Pessin im Havelland vor – bewohnt von 660 Menschen, fürs laufende Jahr geplante Gesamteinnahmen 809 000 Euro, geplante Ausgaben 812 000 Euro, Rücklagen 270 000 Euro –, und alle können sich nicht daran erinnern, jemals Schulden gemacht zu haben. Meyer fährt und Meyer begutachtet, mit geübtem Blick schaut er auf holprige Gehwege und spartanische Betonpisten und auf den kaum merklichen Baufortschritt diverser Häuser und stellt erwartungsgemäß fest, dass alles seine Ordnung hat.

Ende 2012 war nur jeder sechste der 486 kommunalen Haushalte Brandenburgs nicht im Minus. Und während der Bund und die Länder ihren Schuldenstand im ersten Halbjahr 2013 geringfügig senken konnten, ist der von Gemeinden und Gemeindeverbänden weiter gestiegen. Warum machen Sie da nicht mit, Herr Meyer? „Man weiß ja nicht, was morgen mit den Einnahmen ist“, sagt er. Er merkt selbst, dass das keine hinreichende Antwort ist, denn die meisten seiner Bürgermeisterkollegen wissen ja genau dies auch nicht und verhalten sich dennoch anders als er.

Selber nie Schulden gemacht, als Privatmann? „Doch, fürs Haus. Aber das ist doch der entscheidende Unterschied, beim Haus bin ich für mich allein verantwortlich und beim Dorf für die Bürger.“ Meyer ist 63 Jahre alt, er hat einen Hochschulabschluss und hat promoviert. „Schreibtischtäter“, sagt er. Als er 1986 nach Pessin kam, arbeitete er bei einer der beiden hiesigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, kurz LPG. „Als Ökonom.“ Ökonom, laut Duden steht das „veraltend“ für einen Landwirt und für den Verwalter landwirtschaftlicher Güter, die Ökonomie ist dort die „Sparsamkeit“, das „sparsame Umgehen mit etwas“. Und so, wie sich die alten Bedeutungen dieser beiden Worte langsam davonmachen, hat sich offenbar auch das allgemeine Verständnis vom Wirtschaften geändert.

Warum machen Sie da nicht mit? Benita Graf, seit 1987 in der Gemeindevertretung, darüber hinaus Mitglied im Pessiner Kulturverein und im Sportverein: „Wir sind das gar nicht gewöhnt, mit Krediten zu arbeiten.“ Bodo Fathke, Schatzmeister im Pessiner Angelverein, Dorfkirchenfördervereinsmitglied und einer von Meyers Vorgängern als Bürgermeister: „Das ist so ne Einstellungssache, die war hier immer schon da.“ Helmut Starke, Sportplatzwart und Sportvereinsmitglied: „Weil wir das alles so gelernt haben, vielleicht vom Elternhaus her.“ Der Gemeindevertreter Sven Sengebusch- Kähne, Vereinsmitgliedschaften Dorfkirche und Sport: „Schulden, wer soll’n die bezahlen jemals? Meine Kinder?“

Und wie haben Sie den Kindergarten-Anbau bezahlt, die neuen Straßenlampen, den Kinderspielplatz? Meyer sagt: „Man muss nur warten.“ Beim Kindergarten habe er ja erst eine „Containerlösung“ haben wollen, aus Geldgründen. Es verstrich ein wenig Zeit übers Gedankenmachen und über die Planung, und plötzlich und unerwartet kam von ganz oben ein Fördergeldsegen, eines der Finanzkrisen-Konjunkturprogramme der Bundesregierung. Also wurde der Kindergarten-Anbau massiv gebaut. Beim Spielplatz war es ähnlich, und bei den Straßenlampen auch. Hier gab es noch den fiskalisch schönen Nebeneffekt, dass stromsparende LED-Leuchten mittlerweile erschwinglich geworden waren. Pessin hatte gewartet und doppelt gespart.

Das klingt bequemer, als es ist. Ein Jahrzehnt lang drängte die Lampenneubaufrage, ein Jahrzehnt lang war Pessin ohne Spielplatz. Meyer sagt es nicht, dafür aber sein Vorgänger Fathke: „Das war nicht einfach für die Abgeordneten.“

Meyer fährt durch Pessins kanalisationslose Straßen, jeder Mensch, der ihm entgegenkommt, hebt die Hand zum Gruß. Er spricht über die Dorfbewohner und sagt, dass sie in ihren Ansprüchen nicht vermessen seien. Er freut sich über die Großzügigkeit der ortsansässigen Firmen, die Pessin den Dünger für den Sportplatz schenken, defekte Metallzäune schweißen, Karnevalsvereinsbroschüren bezahlen. Er zeigt die Kirche, die der private Förderverein – „die Hälfte der Leute da ist nicht kirchlich!“ – langsam, aber unbeirrt herrichtet. Er zeigt die Reithalle, einen Fördergeldcoup, der nur deshalb möglich war, weil jedes Mitglied der Reitabteilung des Sportvereins 1000 Euro zuschoss. Er spricht von seinen Sorgen, von der Jugend im Dorf und wie man sie vom Wegziehen abhalten könne. „Indem man ihr Bauland gibt, zum Beispiel“, sagt er. Pessin aber könne dies nicht bezahlen. Allein das entsprechende Bebauungsplanverfahren würde 50000 Euro kosten.

Aber selbst in diesem Moment ist Meyer nicht der leiseste Zweifel daran anzumerken, dass die Pessiner Art des Wirtschaftens falsch sein könnte. Er hat stattdessen das bestmögliche Argument auf seiner Seite. Es besteht aus einer rhetorischen Frage: Wenn schon Pessin sich so etwas nicht leisten kann, könnte es dann eines dieser vielen anderen Dörfer, die Schulden haben?

Torsten Hampel[Pessin]

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