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Berlin: „Die Politik hat 40 Jahre lang geschlafen“

Safter Cinar vom Türkischen Bund über die Integrationsdebatte und die Forderungen an Zuwanderer

Hat es Sie gewundert, dass wegen der Krawalle in Paris wieder über die Berliner Parallelgesellschaften diskutiert wird?

Nein. Das kommt immer wieder auf. Aber es war eine sachliche Diskussion.

Wie wirken die Debatten auf Migranten?

Nicht immer aufbauend. Weil es immer auch um Schuldzuweisungen geht. Die sind nicht immer berechtigt. Es wird alles auf die Migranten geschoben.

Warum meinen Sie, dass alles auf die Migranten geschoben wird?

Viele leben hier ganz normal. Deshalb sollte man nicht so einseitig diskutieren, als seien Migranten immer ein Problem. Das gibt die Wirklichkeit nicht wieder.

Wie sehen Sie die Wirklichkeit?

Menschen mit Migrationshintergrund sind in allen Teilen der Gesellschaft angekommen – vom Bundestag über die Verwaltungen bis zur Privatwirtschaft. Die Schulerfolge werden – bei allen schlechten Statistiken – besser, sonst wären die beruflichen Karrieren nicht möglich. Deswegen sollte man nicht immer nur Probleme diskutieren, sondern auch die Fortschritte anerkennen. „Die wollen nicht“ – das stört die Leute. Denn auch die Politik hat 40 Jahre lang geschlafen. Die Anforderungen, die sie jetzt vielleicht zu Recht stellt, kommen ein bisschen spät. Bestimmte Verhaltensweisen haben sich sozusagen eingelebt. Es ist nicht so einfach, die von heute auf morgen zu beheben.

Was zum Beispiel hat sich eingelebt?

Bis in die 90er Jahre hat all das, was jetzt verlangt wird – mehr soziale Integration, bessere Sprachkenntnisse, sich mehr um die Bildung der Kinder zu kümmern – nicht besonders interessiert. 40 Jahre lang hieß es ja: Deutschland ist kein Einwanderungsland. Das Zuwanderungsgesetz hätte schon 1974 kommen müssen. Damals wurde die Familienzusammenführung zugelassen. Wenn man Gastarbeitern die Familienzusammenführung gestattet, lässt man Einwanderung zu. Damals hätte man sich schon Gedanken machen müssen. Die Forderung „Zuziehende Ehepartner müssen Sprachkenntnisse nachweisen“ wäre damals legitim und legal gewesen. Nach 40 Jahren ist das verfassungsrechtlich nicht mehr möglich.

Schwimmunterricht für Mädchen, die Familienehre – türkische Migranten sehen manches anders als die Mehrheitsgesellschaft. Sind die Forderungen, die Politiker erheben, sinnvoll – oder fördern sie das Gefühl, hier nicht erwünscht zu sein?

Der Türkische Bund hat auf die Fehlentwicklung – etwa bei dem, was Eltern ihren Töchtern erlauben sollen – von seiner Gründung an aufmerksam gemacht. Wir haben zum Beispiel immer die Gerichtsurteile kritisiert, die Unterrichtsbefreiungen sogar für Biologie begründeten. Für eine moderne Gesellschaft gilt: Im Bildungswesen darf es keine Ausnahmen geben, weder aus islamischer noch aus christlicher Sicht. Aber es kommt auch hier darauf an, wie man kritisiert.

Was steht für Sie auf der Prioritätenliste?

Die Debatte über Einwanderung hat viel mit Psychologie zu tun. Bei allen Fortschritten erwarte ich, dass akzeptiert wird: Es gab Einwanderung. Diese Leute gehören unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft einfach dazu. Und man muss ihnen wie jeder Gruppe ein gewisses Fehlverhalten einfach zugestehen. Etwa im Hinblick auf die Kriminalität: Es hat mit der sozialen Schichtung der Migranten zu tun, wenn bestimmte Arten von Kriminalität überproportional oft vorkommen. Es sind eben nicht überwiegend Akademiker eingewandert. Man sollte nicht jedes Fehlverhalten auf die ethnische Herkunft zurückführen. 30 Prozent der deutschen Kinder sprechen auch nicht richtig Deutsch, wie die Sprachstandsmessung Deutsch plus ergeben hat. Es sind also soziale Probleme. Die Herkunft kann solche Probleme verstärken.

Halten Sie den so genannten Import von Ehefrauen für ein Problem?

Es ist schwer festzustellen, welche Eheschließung unter Zwang erfolgt ist. Aber es gibt Zwangsehen, und wir finden es in Ordnung, dagegen rechtlich vorzugehen.

Die Fragen stellte Werner van Bebber

Safter Cinar (59) ist Sprecher des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg. Cinar wurde in Brüssel geboren und hat am deutschen Gymnasium in Istanbul sein Abitur gemacht.

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