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Berlin: Die Sonne macht den besten Stich

Bis 16 Uhr hatten nur 27 Prozent der Potsdamer den Weg ins Wahllokal gefunden, um den nächsten Oberbürgermeister zu bestimmen

Die blonde Frau ist noch unschlüssig. „Ich entscheide mich kurzfristig“, sagt sie und bleibt wartend in der Schlange stehen. Zur Stichwahl des Potsdamer Oberbürgermeisters gibt es großen Andrang – allerdings nur beim Eisverkäufer. Ob SPD-Amtsinhaber Jann Jakobs weitere acht Jahre regieren darf oder ob Linke-Herausforderer Hans-Jürgen Scharfenberg erstmals den Posten des Stadtoberhaupts einnehmen kann, scheint für viele der rund 12 7 700 wahlberechtigten Potsdamer weit weniger wichtig zu sein als die Lust auf herbstliche Sonnenstrahlen, einen Ausflug und Kaffee. Erschreckend niedrig ist die Wahlbeteiligung um 16 Uhr: Etwas über 27 Prozent, die schlechte Bilanz des ersten Wahlgangs vor zwei Wochen scheint noch einmal unterboten zu werden. Nur bei Europawahlen gingen noch weniger Potsdamer zur Wahl.

Dabei besitzt diese Stichwahl viel Symbolkraft. Erstmals könnte mit Scharfenberg ein ehemaliger Informeller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit die Geschicke einer deutschen Landeshauptstadt lenken – gewählt am 20. Jahrestag der Deutschen Einheit. Wie in einem Brennglas bündelt sich jüngere deutsche Geschichte und die noch immer währende Auseinandersetzung damit in der Potsdamer Wahl um das Stadtoberhaupt.

Die wenigen, die es bis zum frühen Sonntagnachmittag an die Wahlurnen treibt, haben offenbar ähnliche Gedanken. „Scharfenberg kommt für mich wegen seiner Vergangenheit nicht infrage“, sagt die Potsdamerin Ulrike Jung.

Trotzdem zeigt sich Hans-Jürgen Scharfenberg optimistisch, als er zur Stichwahl an der Urne erscheint: „Der Wahlkampf hat gezeigt, dass es Alternativen für Potsdam gibt“, sagt er mit dem erzgebirgischen Singsang, den der gebürtige Annaberger auch nach Jahrzehnten in Potsdam beibehalten hat. Allerdings wirkt sein Lächeln an diesem Sonntagmorgen angestrengter als beim ersten Wahlgang. Fröhliche Entspannung zeigt er erst, als ein Wähler ihm zuruft: „Meine Stimme haste!“ Die Plattenbaubezirke im Süden von Potsdam sind Scharfenbergs Revier – hier fuhr er schon vor zwei Wochen Ergebnisse von bis zu 60 Prozent ein, bei sechs Gegenkandidaten. Für den Sieg gereicht hat es nicht. Acht Prozent lag er hinter Amtsinhaber Jakobs, die absolute Mehrheit verfehlte aber auch der SPD-Mann.

Doch trotz dieses Vorsprungs von Jakobs, trotz der zwischenzeitlichen Wahlempfehlung aller bürgerlichen Parteien der Rathauskooperation, sich für Jakobs einzusetzen – eine Unsicherheit bleibt für den Sozialdemokraten aus Ostfriesland: Noch immer wirkt der Schock von 2002 nach, als Scharfenberg im ersten Wahlgang ebenfalls deutlich hinter Jakobs rangierte, bei der Stichwahl bis zur Auszählung des letzten Briefwahllokals aber plötzlich vorne lag. Mit nur 122 Stimmen mehr wurde Jakobs schließlich auf den Stuhl des Stadtoberhaupts gehievt. „Keine Frage, ich hoffe, dass ich gewinne“, erklärt Jakobs nach seiner Stimmabgabe am späten Sonntagvormittag. Seine Frau Christine Albrecht-Jakobs sagt: „Wenn er sagen würde, er sei gelassen, wäre das gelogen.“

In Babelsberg weiß Jakobs viele Wähler hinter sich. Wie beispielsweise Doris Meindl, die findet, dass „Potsdam sich sehr zum Positiven verändert hat“. Auch Birgit und Ralf Kunkel in der Jägervorstadt wollen, „dass der alte auch der neue Oberbürgermeister ist, weil er seine Sache ganz okay macht“. Dabei hat Jakobs keine leichte Amtszeit hinter sich. Als Oberbürgermeister hat er Fehler gemacht und umstrittene Entscheidungen gefällt. Die Versäumnisse und Ungeschicklichkeiten bei den Uferwegen am Groß Glienicker und am Griebnitzsee werden Jakobs ebenso angelastet wie die Fehlentscheidungen um den teuer vorbereiteten, aber nicht umgesetzten Bad-Entwurf des Stararchitekten Oscar Niemeyer. Umstritten ist auch die Umgestaltung der Stadtmitte. Vor allem die Potsdamer südlich der Havel, in den Plattenbaugebieten kritisieren, dass sich Jakobs mehr für die Wiederherstellung des historischen Stadtgrundrisses mit Landtags-Stadtschloss und Garnisonkirche einsetze, als auf die Bedürfnisse der Einwohner einzugehen.

Aber gerade hier scheinen sich heute viele vor allem für das gute Wetter zu interessieren. „Wofür soll ich mich entscheiden, es ist ja doch nur die Wahl zwischen Pest und Cholera“, sagt die blonde Mittvierzigerin beim Eisverkäufer in der Brandenburger Straße. Vor den über 20 Eissorten stehend, ist die Entscheidung deutlich einfacher: „Ich nehme Schoko und Vanille.“

Kay Grimmer

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