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Die Sophienstraße im Wandel der Zeit: Ureinwohner im Mitte-Kiez

Früher arbeiteten hier unzählige Handwerker. Dann kam die Wende. Und die Sanierung. Die Sophienstraße vergisst ihre Geschichte.

Wenn Traudel Balzer ihre schwarz gerahmte Brille von der Nasenspitze setzt, sich eine Zigarette anbrennt und sagt: „Ick will Ihnen mal ’ne Historie flüstern“, dann verwandelt sich das schicke, hippe Berlin Mitte noch einmal in das Quartier der Arbeiter und Kleinbürger von früher. Die Lofts in den Hinterhöfen werden zu Fabriken, die Coffee-Shops und Designer-Boutiquen zu heruntergekommenen Mietskasernen – und die denkmalgeschützte Sophienstraße wird wieder zur Handwerkergasse, in der einst Droschkenkutscher, Schirmmacher und Korbflechter arbeiteten. Alles ausgestorbene Berufe. Traudel Balzer ist eine der Letzten von ihnen, die übrig geblieben ist. Mit ihren silbergrauen Haaren, dem weißen Kittel und ihrer Kodderschnauze wirkt sie wie eine Figur aus einem Hans-Fallada-Roman, die aus Versehen in die Gegenwart gebeamt worden ist. Am 6. September 1926 eröffneten Gertrud und Ernst Balzer die Bäckerei und Konditorei Balzer in der Sophienstraße 37. In den sechziger Jahren zog sie auf die andere Straßenseite, in die Nummer 30/31– und da steht sie heute noch.

Wenn man die Bäckerei Balzer betritt, ist es, als wenn man durch eine Zeitschleuse gezogen wird. Vorne an der Theke gibt es Schrippen für 30 Cent; hinten in ihrem Arbeitszimmer lässt sich Balzer auf einen Stuhl sacken und rührt mit einem Löffel in ihrem tiefschwarzen Kaffee. Das Mobiliar sieht aus, als wäre auf der Rückseite eines dieser bleigrauen Schilder eingestanzt: VEB Möbelkombinat Hellerau. DDR-grüne Fliesen an den Wänden, DDR-braune Kacheln am Boden, an der Garderobe hängen ein Wischmopp und ein Plastikbeutel von Schlecker. Die Historie, die Traudel Balzer einem flüstern will, ist ihre eigene. Die Geschichte ihrer Bäckerei. Die Geschichte der Sophienstraße, die sie besser kennt als jeder andere. Sie ist das lebendige Gedächtnis der Handwerkergasse, ihre „alte Seele“, wie sie selbst mit ihrer kratzigen Stimme sagt, der man anhört, dass Frau Balzer seit 60 Jahren eine Schachtel Zigaretten am Tag raucht.

Die Sophienstraße, 1837 nach Königin Sophie Luise benannt, ist eine der ältesten und schönsten Straßen in Berlin Mitte. Sie beginnt an der Rosenthaler Straße, direkt an den Hackeschen Höfen, und endet nach 400 Metern an der Großen Hamburger Straße. In den zwanziger Jahren säumten unzählige Werkstätten und Kleingewerbe die Straße. In den Gewerbehöfen fertigten Industriearbeiter Nähmaschinen und Fahrradketten. Anfang der achtziger Jahren belebte die SED-Bezirksleitung die Tradition wieder und siedelte neue Handwerker an: Zinngießer, Goldschmiede, Holzbildhauer. Heute erinnert nur noch eine verblasste Malerei an einer Giebelwand daran, „Handwerk & Tradition“ steht darauf. Die Gegend um die Sophienstraße ist zu einer der angesagtesten Adressen Berlins aufgestiegen. 212 Millionen Euro an öffentlichen Mitteln flossen von 1993 bis 2010 in die Spandauer Vorstadt. Sie zogen eine Milliarde Euro an privaten Investitionen nach sich. Ein gesamter Stadtteil wurde denkmalgerecht saniert, die historischen Altbauten gerettet und die Brachen, die faulten wie schwarze Zähne im Gebiss, geschlossen. Eine Erfolgsgeschichte meinen die einen, beispielhaft dafür, wie man ein marodes Viertel modernisieren und aus einer Ruine ein Märchenschloss machen könne. Das Viertel habe seine Seele verkauft, sagen die anderen, gleichförmig sei es geworden, unbezahlbar.

Zwei Drittel der Bewohner sind seit Beginn der Stadtteilsanierung weggezogen. Die meisten Handwerker sind verschwunden, die Keramikerin, der Holzbildhauer, die Stroh-Sophie mit ihrem Erzgebirgskunstladen und die Handweberin Angela Binroth-Gierke. In ihre Werkstätten sind Galerien, Anwaltskanzleien und Architektenbüros eingezogen. Nur einige wenige Alteingesessene konnten sich halten: Die Instrumentenwerkstatt von Boris und Anke Schoenherr, in der sie die Klarinetten und Querflöten der Berliner Philharmoniker reparieren, das Puppentheater Firlefanz, die Kneipe „Sophien 11“ von Monika Bothe – und die Bäckerei Balzer. Einerseits haben sie alle von dem Boom profitiert und von den Touristen, die in Scharen die Straße entlangflanieren; sie haben die Geschichte der Straße zu ihrem Markenzeichen gemacht, in jedem Reiseführer sind sie zu finden. Andererseits zerfrisst sie alle die Ungewissheit, wie lange sie noch Teil dieser Geschichte bleiben werden. Die Mieten schießen weiter nach oben, 11 Euro kostet der Quadratmeter im Durchschnitt. Die Gegend ist zu teuer geworden für Leute wie sie – ihre Mietverträge laufen bald aus. Wenn sie verschwinden, stirbt auch ein Teil des alten Berlin.

"Meine Mädels sind in Rente und ich bin scheintot."

Der Arbeitstag von Traudel Balzer beginnt um 4 Uhr 20, die ersten Schrippen hat ihr Bäcker da schon lange gebacken. Morgens um halb sechs Uhr öffnet Balzer die Rollläden und die Ladentür, abends um sechs Uhr schließt sie sie wieder. Danach noch zwei Stunden Büroarbeit, um acht Uhr ist Feierabend. Von Montag bis Samstag geht das so. Wenn die Kacke am Dampfen sei, schmeiße sie ihren Angestellten auch mal Backbleche vor die Beine, sagt Balzer. Die Frau ist resolut. Alles hört auf ihr Kommando. Einmal wollte ihr Vermieter sie rauswerfen, da schrieb sie Briefe an den Bezirksbürgermeister und lauerte Klaus Wowereit beim Friseur auf. Ergebnis: Der Mietvertrag wurde um fünf Jahre verlängert. Und als ein Übernahmeangebot von einem großen Backkonzern ins Haus flatterte, lehnte Balzer ab, ohne lange zu überlegen. Eigentlich müsste sie sich den Stress nicht mehr antun mit ihren knapp achtzig Jahren. Sie ist ja schon lange Rentnerin. Aber für das Erbe ihrer Eltern, für ihre sechs Angestellten hält sie den Laden. Wie eine Glucke, die ihre Flügel schützend über ihre Küken legt.

Dabei wollte Balzer eigentlich nie Bäckerin werden. In Berlin und an der Sorbonne in Paris studiert sie Wirtschaftsrecht, Anglistik und Romanistik; zehn Jahre lang arbeitet sie für einen französischen Textilkonzern, ist auf der Leipziger Messe unterwegs, in Madrid und London – bis zum Berufsverbot. Eine DDR-Bürgerin, die bei einem kapitalistischen, ausländischen Konzern arbeitet, das sieht man nicht gerne. Deshalb kehrt Balzer in die Sophienstraße zurück, dolmetscht auf Kongressen und hilft nebenbei in der Bäckerei aus. Später holt sie die Ausbildung zum Gesellen nach und macht ihren Meister. Als ihre Mutter stirbt, übernimmt Balzer die Leitung, am 17. Oktober 1987. Das Datum hat sie nicht vergessen. „Meine Mutter hat so viel geschuftet“, sagt sie, „ich wollte das nicht alles an den Nagel hängen.“

Das alte Motto der Sophienstr.
Das alte Motto der Sophienstr.

© Doris Spiekermann-Klaas

Mittlerweile greift Balzer selbst nicht mehr zum Nudelholz. Die Knie schmerzen, die Hüfte ist kaputt. 2015 läuft der Mietvertrag aus. Dann sei endgültig Schluss, sagt sie. „Meine Mädels sind in Rente und ich bin scheintot.“ Kinder hat Balzer keine, ein Nachfolger ist nicht in Aussicht. Keiner ihrer Mitarbeiter will den Laden übernehmen. Balzer versteht das. Das wolle ja keiner mehr machen. Zu viel Arbeit, zu wenig Geld. Die Mieten seien um das Drei- bis Vierfache gestiegen. Und zudem werde es nicht leichter, mit der Konkurrenz mitzuhalten, wenn man noch selber backt. In den Backshops erwärmen sie die Brötchen nur noch in Automaten. Und um die Ecke hat eine Filiale der bayerischen Hofpfisterei aufgemacht, die ihr Brot aus München liefern lässt. Den „Ökofrankenlaib“ gibt’s dort für 4,50 Euro.

An ihrem Anfang ist die Sophienstraße eine Flaniermeile für Touristen, mit Schuhgeschäften, Cafés, Restaurants, eine Welt aus Zuckerwatte, durchgestylt wie in einem Werbeclip. Die Menschen leben hier nicht, sie präsentieren sich in Schaufenstern, eine leblose Filmkulisse. Vorne an der Ecke, im ehemaligen Kaufhaus Wertheim, hat ein großer Versicherungskonzern seine Firmenzentrale hingeklotzt, viel Glas und Beton. Ungefähr auf halber Strecke verändert die Straße ihr Gesicht, rechter Hand liegen die Sophien- und die Gipshöfe, zu Apartments umgebaute Fabriketagen, menschenleere Galerien in pastellfarbenen Jugendstilhäusern – stilvoll, nicht zu aufdringlich. Linker Hand versperrt ein Eisengitter den Blick auf den Kirchhof, der von der Sophienkirche mit ihrem Barockturm überragt wird. Danach gleitet die Gasse ins Wohngebiet über, die Plattenbauten sind nicht weit.

In den achtziger Jahren wurden die betongrauen Quader hochgezogen, im Schatten des Alexanderplatzes sollte eine moderne, sozialistische Wohnsiedlung entstehen. Die SED hatte die Spandauer Vorstadt vierzig Jahre lang verrotten lassen. Große Teile, darunter Häuser aus dem 18. und 19. Jahrhundert, fielen der Abrissbirne zum Opfer. Die Sophienstraße blieb verschont, sie war ein Prestigeobjekt. Ihre in Mintgrün und Zartrosa getauchten Fassaden stachen heraus aus der Gegend um den Ostberliner Mauerstreifen. Denn von 1981 bis 1987 wurde die Straße anlässlich der 750-Jahrfeier Berlins restauriert. Die Häuser bekamen einen neuen Anstrich, Stuckfassaden wurden erneuert, Hinterhöfe entkernt, Toiletten und Bäder eingebaut – und Handwerksbetriebe angesiedelt. Monika Bothe hat das alles miterlebt, seit über vierzig Jahren lebt sie im Viertel.

Hinter der Bar im Café Moskau in der Karl-Marx-Allee habe sie früher gestanden, erzählt sie. Und man kann sich gut vorstellen, wie sie damals den Männern reihenweise den Kopf verdreht hat mit ihren kullerrunden, leuchtenden Katharina-Thalbach-Augen. Jetzt steht Bothe gemeinsam mit ihrem Mann – wie jeden Abend ab fünf Uhr – hinterm Tresen, in ihrer eigenen kleinen Kneipe, der „Sophien 11“. „Altberliner Restauration“ steht draußen auf einem Schild. Wer durch die Butzenscheiben blickt, sieht funzlige Lampen glimmen, eine holzvertäfelte Decke sowie Zylinder, Gehstöcke und allerlei anderen nostalgischen Nippes an der Wand hängen. Auf der Speisekarte gibt’s Altbewährtes: Eisbein mit Sauerkraut und Erbspüree für 8,50 Euro.

Die Sophienstraße heute - ein Ghetto des Wohlstands

Monika Bothe schwelgt gerne in Erinnerungen an früher, an die alte Sophienstraße. Sie weiß noch genau, wie sie im Februar 1992 das Untergeschoss in der Nummer 11 mietete und es umbaute. Seitdem hat sie viele kommen und gehen sehen: Die Off-Szene, die die Freiräume besetzte und wilde Partys feierte, die Investoren, die Schnäppchen jagten, als die Sanierungswelle einsetzte, die Immobilienhaie und Spekulanten. Der Kreislauf der Gentrifizierung. Was Bothe am meisten bedauert ist, dass der Charme der Sophienstraße verloren gegangen ist und die Menschen, die hier einmal gelebt haben.

„Man kann hier immer noch sehr gut leben“, sagt sie. „Aber wer ist man?“ Mit einer Rente von 600 Euro komme hier keiner mehr über die Runden. Früher sei es ein gemischter Kiez gewesen. Alte Leute, junge Mütter oder Studenten kamen in die „Sophien 11“. Heute ist die Zusammensetzung der Bewohner homogener geworden. Viele verdienen überdurchschnittlich gut, viele sind überdurchschnittlich gebildet, über die Hälfte hat einen Hochschulabschluss. Schauspieler, Ärzte, Anwälte, Musiker, Designer wohnen jetzt hier. Ein Ghetto des Wohlstands. Das Gesicht der Sophienstraße hat sich verändert, es sieht aus wie geliftet, glatter aber irgendwie unnatürlich, es fehlen die Falten.

Im Innenhof der „Sophien 11“ ranken Efeu und Weinstöcke zwischen allerlei Keramik und Vasen empor. Eine liebevoll dekorierte Dorfidylle. Wenn die Glocken der Sophienkirche läuten, glaubt man auf dem Land zu sein. „Alles ist viel urbaner geworden“, sagt Bothe. Ständig eröffneten neue Läden und Restaurants. Früher sei es familiärer zugegangen. Jeder kannte jeden. Die benachbarten Handwerker und Kollegen kamen auf ein Feierabendbier zu ihr, um zu tratschen und zu fachsimpeln. Auch Angela Binroth-Gierke war öfter da, damals als sie noch ihre Handweberei hatte in der Nummer 16. Heute meidet sie die Gegend. Sie fühlt sich nicht mehr wohl in der Sophienstraße. Zu viele Erinnerungen. Seit fünf Jahren wohnt Binroth-Gierke in Weißensee. Wer sie in ihrer Zweizimmerwohnung besucht, darf die Schuhe anbehalten. Bei sich zu Hause mache sie nur selten sauber, sagt sie. Schließlich putze sie den ganzen Tag die Häuser anderer Leute. Die 61-Jährige verdient damit ihren Lebensunterhalt.

Fürs Weben bleibt ihr kaum noch Zeit. Dabei war sie doch Handwebermeisterin, hatte ihren eigenen Laden, 150 Quadratmeter groß, verkaufte Gobelins und webte Stoffrepliken für Museen. „Mein Vermieter hat meine Existenz zerstört“, sagt sie. 2001 bekam sie die Kündigung. Einfach so, ohne Begründung. „Hätte er doch wenigstens mehr Miete gefordert, dann hätten wir reden können.“ Vorher mussten schon der Schirmmacher, die Galvanik-Werkstatt und der Klempner gehen.

Im vergangenen Jahr hat Binroth-Gierke ihren ganzen Mut zusammengenommen und ist mal wieder durch die Sophienstraße geschlendert, zum ersten Mal seit fünf Jahren. Sie hat den Gartenhof hinter ihrer alten Werkstatt besucht, dort, wo sie ihre tote Katze verbuddelt hat, und geschaut was aus dem Nussbaum geworden ist, den sie dort eingepflanzt hat. „Das hat mir wehgetan durch meine Straße zu laufen“, sagt sie. Zu sehen, dass sich alles auch ohne einen weiterdreht. Davor hat auch Monika Bothe Angst. In anderthalb Jahren läuft ihr Mietvertrag aus. Manchmal stellt sie sich vor, wie es sein wird, wenn sie die Tür zur „Sophien 11“ zum letzten Mal hinter sich zumacht. „Mein Herz wird schwer sein“, sagt sie. Sie sei keine Gastronomin, die man irgendwohin verpflanzen könnte.

Traudel Balzer würde das nie so sagen. Keine Zeit für Sentimentalitäten. Was es für sie bedeuten könnte, ihre Heimat zu verlieren, ahnt man nur, wenn man ihrer älteren und bereits verstorbenen Schwester Edith Scholz zuhört. 1988 gewann ihre Dokumentation „Mein Kiez“, die sie für den WDR gedreht hatte, den Grimme-Preis. Darin kehrt sie, die früh in den Westen gegangen war, nach Jahrzehnten zurück an die Orte ihrer Kindheit, in die Spandauer Vorstadt, in die Sophienstraße.

An die Konditorei der Brüder Karl und August Aschinger erinnert sie sich, an die tollkühnen Kunstreiter in der königstädtischen Reitbahn in der Nummer 16 und an das nasse Dreieck des kleinen Erdmann, wo die Molle nur ein paar Pfennige kostete. Zum Schluss sagt sie: „Keine Rekonstruktion kann die Fülle des historisch Gewachsenen wiederherstellen. Meinen Kiez mit der Lebendigkeit, Atmosphäre, sozialen Eigenart gibt es nicht mehr.“ Das alte Milieu ist weg. Nichts bleibt so, wie es ist. Aber vorerst verkauft Traudel Balzer morgen früh wieder Schrippen und Monika Bothe steht abends wieder hinter dem Tresen. So wie immer.

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