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Berlin: Die Straßen leer, die Herzen voll

750 000 Menschen drängen sich auf der Fanmeile im Tiergarten, der Kurfürstendamm ist menschenleer Die ganze Stadt schaute Fußball und bejubelte die deutschen Tore – nur in Buckow fiel das Kabelnetz aus

Das Spiel war noch nicht angepfiffen, da gerieten die Herzen der Fußball-Fans im südlichen Neukölln schon aus dem Takt. Im Ortsteil Buckow und Umgebung fiel das Kabelnetz aus, auf den Fernsehbildschirmen war nichts zu sehen. Der Entstörer von Kabel Deutschland hatten den Schaden auch während der ersten Halbzeit noch nicht behoben.

Gut eine Stunde zuvor hatte die Polizei die Fanmeile im Tiergarten schon wegen Überfüllung schließen lassen. Rund ums Brandenburger Tor waren alle Eingänge dicht, schätzungsweise eine dreiviertel Million Menschen feierten, vom Großen Stern drängten die Massen nach.

Zur gleichen Zeit ist der Kurfürstendamm beinahe menschenleer. In den Geschäften langweilt sich das Verkaufspersonal – oder starrt selbst auf Fernsehbildschirme, um das Achtelfinale Deutschland:Schweden zu verfolgen. Von Kunden werden sie dabei kaum belästigt. Die wenigen Kauflustigen an diesem Nachmittag sind fast ausnahmslos Frauen.

Am Wittenbergplatz steht einsam ein fliegender Händler und bietet Deutschland-Schals für fünf Euro das Stück. „Deutschlandzeug haben wir noch massenhaft“, erklärt der Händler. „Und wenn die nachher rausfliegen, bleiben wir da drauf sitzen.“ Dass die blau-gelben Schals bei ihm noch die regulären zehn Euro kosten, macht die Sache nicht besser. Was ist denn, wenn die Schweden nachher rausfliegen? „ Macht nix“, sagt der Mann. „Die Schweden kaufen immer.“ Zum Beweis zeigt er auf die bunte Reihe der Trikots: Fast alle sind noch zu haben, nur keine schwedischen mehr. „Die waren schon letzte Woche alle. Die Schweden haben ja gekauft wie blöd.“

Er meint vor allem jenen Donnerstag vor zehn Tagen, als Schweden im Olympiastadion gegen Paraguay spielte und die City West schon Stunden vorher von einer gelb-blauen Woge überspült worden war. Jetzt aber mischen sich letzte Einkäufer und erste Fans, blau-gelb sind nur noch die Lidl-Tüten, die heimwärts geschleppt werden fürs Fernsehfest.

Am Wittenbergplatz, wo einst die Schweden in der Sonne sangen, bastelt ein junger Vietnamese mit Brasilien-T-Shirt gerade ein schwarz-rot-goldenes Fähnchen an seinen Golf. Schweden ist ihm egal, aber Deutschland solle weiterkommen und Brasilien auch. Seinetwegen könnten auch beide Weltmeister werden, aber „es gibt ja nur einen Pokal“. Also tippt er, dass Brasilien die Deutschen im Finale mit 2:1 schlägt. Gegen Schweden dagegen traut er Klinsmanns Truppe ein 3:1 zu.

Am Hauptbahnhof können die ersten deutschen Fans sich schon zwei Stunden vor dem Anpfiff keine so komplizierten Gedanken mehr machen, weil sie zu betrunken sind. Mühsam halten sie sich an ihren Fahnenmasten fest und singen „Fi-na-le, uoho!“ Draußen am Eingang Invalidenstraße sitzen zwei gelb-blau Gewandete Jungs auf den Pollern. Der eine verschlingt eine Pizza. Der andere erzählt, er komme aus Nässjö in Småland und sei sicher, dass Schweden gewinnen werde: „Die Deutschen hatten bisher nur Trainingsgegner. Heute, das ist was anderes.“ Auch die bisher durch lausige erste Halbzeiten aufgefallenen Schweden würden besser: „Heute spielt Zlatan mit, unser Star. Das macht den entscheidenden Unterschied.“ Die lärmenden Deutschen ringsum seien in Ordnung, es habe kein böses Wort gegeben – „noch nicht!“

Ähnliches ist von den Ordnern am Fancamp in der Seydlitzstraße zu hören, wo gerade die letzten Spätaufsteher starten. „Alles friedlich, alles freundlich“, sagen die Ordner am Tor. Die Deutschen seien jetzt in der Mehrheit, heißt es an der Rezeption. Allerdings seien erst 220 der 2000 Plätze in den Zwölferzelten belegt. Die meisten sind unterwegs um diese Zeit. Nur eine Hand voll hat sich auf dem Parkplatz hinter einem VW-Bus mit Reisefernseher niedergelassen und packt einen Grill mit schwarz-weißem Fußballdeckel aus. Von hier aus gesehen kaum vorstellbar, dass die Rekordzahl von 5000 Polizisten in der Stadt unterwegs sein soll.

An der Fanmeile musste der Zugang am Brandenburger Tor schon mittags wegen Überfüllung geschlossen werden. Wer nach 15 Uhr kam, hatte auch an der Siegessäule keine Chance mehr. Die Meile (die tatsächlich genau eine Meile lang ist) hat ihre Kapazitätsgrenze von 750 000 Menschen erreicht. Immerhin können nun mehr Besucher das Spiel auf Großbildschirmen verfolgen, weil der Senat nach der Vorrunde in aller Eile noch eine weitere beidseitige Leinwand beschafft hatte. Doch an diesem Tag ist die Fanmeile schlicht zu kurz für die Massen.

Lange vor 17 Uhr haben die Fans sich versammelt. Wo sie sind, herrscht bierseliger, vorgezogener Freudentaumel. Wo sie nicht sind, ist die Stadt still geworden – wo sonst immer Autos lärmen, singen plötzlich Vögel. Bis zum ersten Tor.

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