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Berlin: Die verpasste Chance

Früher wollte Berlin zum Ost-West-Zentrum Europas werden. Daraus ist nichts geworden, sagen Experten

Die Berliner Wirtschaft hat die Ost-Erweiterung der Europäischen Union offenbar verschlafen. „Die in den 90er Jahren gehegten Hoffnungen, Berlin könne das Ost-West-Zentrum Deutschlands oder sogar Europas werden, haben getrogen“, schreibt Klaus-Heinrich Standke, Präsident des Komitees zur Förderung der deutsch-französisch-polnischen Zusammenarbeit, in einer aktuellen Studie, die dem Tagesspiegel vorliegt.

Vor allem die Außenhandelsbilanz Berlins ist enttäuschend: Von allen deutschen Ausfuhren in die neuen EU-Länder in Mittel- und Osteuropa stammten in der Zeit von Januar bis September 2004 nur 1,37 Prozent aus Berlin – der niedrigste Wert seit der Wende.

Seit der Osterweiterung der Europäischen Union sind die Ausfuhren in die zehn neuen Mitgliedstaaten sogar zurückgegangen. Von Mai bis September 2004 exportierte Berlin in diese Länder Waren im Wert von 315 Millionen Euro – das sind 2,3 Prozent weniger als im Jahr zuvor. Zum Vergleich: Die Gesamtausfuhren Berlins kamen im gleichen Zeitraum auf ein Plus von 11,6 Prozent. Schätzungen zufolge hängen in Berlin lediglich 8000 Arbeitsplätze vom Warenexport nach Mittel- und Osteuropa ab. In der IT- und Medienwirtschaft der Stadt arbeiten dagegen rund acht Mal so viele Menschen.

Dabei hatte der Senat jahrelang propagiert, Berlin zum überregional ausstrahlenden Handels- und Finanzplatz sowie zum Zentrum für Aus- und Weiterbildung zwischen Ost und West machen zu wollen. „Dieses Ziel ist nicht verwirklicht worden“, kritisiert Experte Standke nun.

„Es besteht noch erhebliches Potenzial“, sagt auch Dieter Schumacher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). So sei der Export aus ganz Ostdeutschland – auch aus Berlin – nach Polen und Tschechien deutlich niedriger, „als er es angesichts der regionalen Nähe sein könnte“. Selbst wenn man die geringere Wirtschaftskraft in Rechnung stelle, habe ein ostdeutsches Bundesland 2003 rund 25 Prozent weniger nach Polen und Tschechien exportiert als ein westdeutsches. Als Grund nannte Schumacher die schwache Industriedichte und kleine Betriebsgrößen.

Auch Uwe Luipold, Inhaber des Beratungsunternehmens Regioconsult, sieht die Lage der Hauptstadt kritisch: „Berlin hat die Latte in der Vergangenheit viel zu hoch gehängt.“ Der Anspruch, die Nummer eins im Geschäft zwischen Ost- und Westeuropa zu werden, sei von vornherein nicht einzulösen gewesen. Wenn es überhaupt ein Ost-West-Zentrum gebe, dann sei dies Wien. Selbst München stehe mit seiner Nähe zu Prag besser da als Berlin, das zu weit von Warschau entfernt liege.

Die Osteuropäer hingegen nutzen sehr wohl die Chancen des Berliner Markts. Als eines der wenigen Bundesländer verzeichnet Berlin ein beträchtliches Handelsdefizit im Warenaustausch mit den neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union: So kommt die Hauptstadt von 2001 bis Ende September 2004 allein gegenüber Polen auf ein negatives Saldo von 536,4 Millionen Euro.

Dabei hatte die Investitionsbank Berlin (IBB) bereits 2003 vor einer Vernachlässigung des Ostens gewarnt: Viele Berliner Industriebetriebe hätten ihre Absatzstrategien primär auf die USA, Fernost und einzelne westliche EU-Länder gerichtet. Vier Fünftel der kleinen und mittleren Exportbetriebe Berlins seien auf die Osterweiterung der Europäischen Union nicht ausreichend vorbereitet. Geändert hat sich daran aber bis heute offenbar nicht viel.

Standke macht vor allem ein Problem aus: Die Palette der Berliner Ausfuhren – mit Ausnahme von Pharmaprodukten – sei im Vergleich zum gesamten deutschen Export als „tendenziell niedrigpreisig“ einzustufen. In diesem Segment stoße die Berliner Industrie aber auf einen Wettbewerb mit noch günstigeren Produkten aus den neuen EU-Mitgliedsländern, den sie nicht gewinnen könne. Bei hochwertigen Produkten wiederum liegen die alten Bundesländer vorn: „Gewinner im Handel mit Mittel- und Osteuropa sind die Bundesländer im Westen, die im Osten profitieren weit weniger“, sagt DIW-Mann Schumacher.

Standke fordert Politik und Wirtschaft daher auf, verstärkt auf Wissenschaft und Forschung sowie die Entwicklung innovativer Produkte zu setzen. Das sieht auch Schumacher vom DIW so: „Wenn aus Ideen Unternehmen entstehen, suchen die sich von alleine ihre Märkte – auch in Mittel- und Osteuropa.“ Zudem schlägt er vor, die Verkehrswege in Richtung Osten besser auszubauen. Die Investitionsbank wiederum ist dafür, die Finanzierungsmöglichkeiten von Auslandsinvestitionen für Berliner Unternehmen zu verbessern: Schließlich gestalte sich das Geschäft mit Osteuropa einfacher, wenn hiesige Firmen auch vor Ort präsent seien.

Doch selbst wenn all dies umgesetzt würde, hat Experte Standke keine große Hoffnung mehr: Nun, nach der EU-Erweiterung, lasse sich an der schlechten Position Berlins kaum noch etwas ändern. „Eine spezielle Ost-West-Kompetenz ist nicht mehr gefragt; dieses Zeitfenster ist geschlossen.“ Gewisse Vorteile, die die Hauptstadt zunächst hatte, wie zum Beispiel die Russischkenntnisse vieler Berliner aus dem Ostteil der Stadt, brächten nun – anders als noch in den 90er Jahren – nichts mehr: „Heute spricht man auch in Mittel- und Osteuropa Englisch“, konstatiert Standke. Das neue Drehkreuz liege nun weiter östlich – an der Grenze Polens zur Ukraine.

Diese Einsicht hat sich offenbar auch in der Politik durchgesetzt: Die Stelle eines besonderen Koordinators für Mittel-Osteuropa hat der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit zum Beginn dieses Jahres nicht mehr neu besetzt.

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