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Berlin: Die Wahlfamilie

Ein Verein will Behinderte, Senioren, Alleinerziehende und Kinder zusammenbringen. Er braucht Hilfe.

So, jetzt geht’s aber wieder an die Arbeit: „Ich mach mal den Elefanten fertig“, sagt Marcel Ehrlich und bewegt seinen Rollstuhl näher an den großen Tisch heran. Der liegt voller Keksteig und Ausstechformen. Rundherum sitzen und stehen Frauen jeden Alters mit bemehlten Händen. Marcel Ehrlich manövriert seinen Teigelefanten erfolgreich auf ein Backpapier. Rita Kumm versucht Ähnliches: „Oh oh, jetzt habe ich den Engel geköpft.“ Sie ist 58, trägt die blonden Haare hochgesteckt und ist ständig in Bewegung. Sie könnte Ehrlichs Mutter sein. Der Mann im Rollstuhl ist 33.

Aber ganz stimmt das nicht: „Wir sind eine Wahlfamilie“, sagt Marcel Ehrlich. Der offizielle Name dieser Familie ist „Kontakte schaffen Leben e. V.“ Ehrlich und die 35-jährige Sarah Adams haben den Verein in diesem Jahr gegründet. „Frau Adams hat mich aus der Isolation geholt“, sagt Ehrlich. „Ich habe dadurch einen ganz anderen Blickwinkel bekommen“, sagt sie.

Vor fünf Jahren haben die beiden sich an einem regnerischen Tag kennengelernt. Marcel Ehrlich war allein im Rollstuhl unterwegs und hatte seine Tasche verloren. Sie half ihm spontan und brachte ihn samt Rollstuhl im Kleinwagen nach Hause. Aus der Begegnung entstand eine Freundschaft. Und eine Idee: Einen Verein ins Leben zu rufen, der Behinderte, ältere Leute, Alleinerziehende und deren Kinder „sozial integriert“ – in eine Gemeinschaft. Rund 20 Mitglieder gibt es inzwischen. Der Jüngste ist 22, die Älteste 91. Einige sind über Freunde oder Verwandte dazugestoßen, andere haben im Internet davon gelesen.

Bald wollen sie sich wieder treffen, zum gemeinsamen Eintopfessen und zum Weihnachtsmarktbesuch. „Es muss gar nichts Großes sein“, sagt Ehrlich. „Nur etwas, bei dem ein Gemeinschaftsgefühl entsteht.“ Das hat er, der durch Komplikationen bei der Geburt behindert ist, oft vermisst: „Ich musste mein Leben lang betreut werden. Die medizinische Versorgung war immer super – aber das Zwischenmenschliche kam oft zu kurz.“

Um das zu ändern, will der Verein etwa Ersatzgroßmütter für Alleinerziehende organisieren ebenso wie „Alltagsengel“. Das sind Mitglieder, die jenen mit einem Handicap ein bisschen weiterhelfen. Helga Kroll zum Beispiel, die auch im Rollstuhl sitzt und neben Marcel Ehrlich backt, hat dank ihres Alltagsengels nach fünf Jahren zum ersten Mal wieder ihre Wohnung verlassen, ohne dass ein Arztbesuch auf dem Plan stand: Der „Engel“ schob sie in den Supermarkt – für Frau Kroll ein richtiger Ausflug: „Schön war’s“, sagt sie versonnen. Zu gern würde sie den Tauentzien mal wiedersehen. Aber der ist von der Wohnanlage, in der sie wie Marcel Ehrlich lebt, zu weit entfernt, um eben hinzuschieben.

„Zu Fuß ist der Aktionsradius ganz schön eingeschränkt“, sagt Ehrlich. Deshalb will der Verein einen Bus anschaffen und damit einen „Groschen-Taxi-Fahrdienst“ einrichten. Dabei will der Tagesspiegel mit der Spendenaktion helfen. Der Verein braucht eine ganze Menge Starthilfe. Noch treffen sich die Mitglieder in einem unpersönlichen Aufenthaltsraum der Seniorenwohnanlage.

„Wir wollen gern eine behindertengerechte Wohnung für unsere Treffen mieten und sie ausstatten.“ Für Koch- und Bastelkurse etwa. Und dann ist da noch Marcel Ehrlichs „Zukunftsmusik“, ein Wohnprojekt für die Wahlfamilie. „Mit ein paar Tieren, vielleicht mit einem Esel“, sagt Ehrlich. Einem richtigen nämlich – keinem aus Teig. Daniela Martens

Spenden an: Spendenaktion Der Tagesspiegel e. V., Verwendungszweck: „Menschen helfen!“, Berliner Sparkasse (BLZ 100 500 00), Konto 250 030 942. Namen und Anschrift für den Beleg notieren

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