zum Hauptinhalt

Berlin: Die wilden Nachbarn

Am Salzufer wurde ein Biber entdeckt, und auf dem Kanzleramt leben Silbermöwen. Derk Ehlert kann noch ein paar mehr Geschichten aus der Stadt erzählen, die so kaum einer kennt.

Der Frühling ist da. Er ist unterm Schneematsch nicht immer gleich zu erkennen, aber die Indizien häufen sich. Bei Mercedes am Salzufer wartet bereits ein Biber, dass der Landwehrkanal auftaut. Der Seeadler von Köpenick baut seiner Gattin schon den Zweitwohnsitz aus und turtelt mit ihr piepend hoch überm Müggelwald. Und in drei Wochen werden auch die noch etwas hüftsteifen Herren Moorfrösche im Berliner Nordosten sehr agil sein. Und sehr hellblau.

Derk Ehlert kennt sie alle. Der Wildtierreferent des Senats kann erklären, was hinter einer für Laien unglaublich scheinenden Auskunft der Stadtentwicklungsverwaltung steht, die Mitte der Woche veröffentlicht wurde: Der CDU-Abgeordnete Alexander J. Herrmann hatte ein paar Fragen zum Schutz der Wildtiere in Berlin gestellt und als Antwort eine Tabelle erhalten, in der beispielsweise 411 Wanzen, 254 Laufkäfer und 148 Brutvögel als hier heimisch aufgelistet sind. Arten, nicht Exemplare! Und Ehlert fügt hinzu, dass es inzwischen 149 Brutvögel seien: Auf dem Kiesdach des Kanzleramtes hätten sich nämlich mehrere Silbermöwenpaare angesiedelt. Was nicht etwa vom Bundeskriminalamt bemerkt worden ist, sondern in der Tierklinik Düppel, wohin die Feuerwehr ein flugunfähiges Jungtier aus dem Regierungsviertel gebracht hatte.

Im Büro am Märkischen Museum ist Ehlert von Menschen umgeben, deren wesentliche Wildtierbegegnung wohl die mit Maxi und Schnute sein dürfte, jenen verdienten Braunbären des Volkes aus dem Zwinger auf der anderen Straßenseite. Aber Ehlert hat eine frische Bissverletzung am Fingerknöchel, die von einem Waschbär stammt, den eine Abrissfirma am Donnerstag unverhofft freigelegt und verletzt hat. Dieses Wochenende verbringt der Biologe in der Lausitz, um Wölfe zu fangen für die Wissenschaft. Vielleicht die 56. Säugetierart, die eines Tages in Berlin erfasst wird.

Der Biber jedenfalls ist schon da und stadtweit in etwa 25 Exemplaren vertreten. Die neueste Sichtung stammt vom Landwehrkanal am Salzufer, wo ein junges Männchen auf Reviersuche offenbar von der Tiergartenschleuse gestoppt wurde und nun Station an einem unverbauten Uferstück mit dicht bewachsener Böschung macht. Ehlert ist gespannt, ob er die Schleuse umgeht, den Rückweg nach Westen antritt oder vielleicht in den Tiergarten abbiegt, wo dann scharfe Zähne auf ebenso scharfen Gartendenkmalschutz treffen würden. Bisher zeigt ihm die Geschichte vor allem, dass schon ein kleines Uferstück ohne Spundwand großen Wert haben kann.

An der O2-World wurde ja bereits vor Jahren ein Biberausstieg gebaut, denn die Tiere müssen alle drei Kilometer aus dem Wasser, um ihr Fell nachzufetten. „Mehr als 8000 Haare pro Quadratzentimeter“, sagt Ehlert und begeistert sich dabei nicht nur für den Fakt, sondern auch dafür, dass jemand die Haare gezählt hat.

Weil er einmal am Wasser ist, bleibt Ehlert gleich da und wendet sich einem Promi unter den 109 Köcherfliegenarten zu: der gebänderten Flussköcherfliege, die eine Jury zum Insekt des Jahres 2013 gewählt hat. Weil sie sauberes Wasser braucht, durch das sie – „eine hoch gefährliche Aktion“ – mit angelegten Flügeln immer wieder bis zum Grund taucht, um dort ihre Eier abzulegen. Für den Auftrieb zurück sorgen Luftblasen. Und der namensgebende Köcher bezieht sich auf die Gewohnheit der Larven, beispielsweise ein Stück Schilfhalm als Behausung zu suchen. Was voraussetzt, dass es Schilf gibt. Was wiederum ein naturbelassenes Gewässer erfordert. In dem ernähren sich die Fliegenlarven von Kleinkrebsen und düngen mit ihren Exkrementen Wasserpflanzen, die Sauerstoff und Deckung schaffen, was wiederum Kaulquappen und Junghechten Lebensraum schafft, die sich auch von Köcherfliegenlarven ernähren. So hängt alles mit allem zusammen.

Auch vom Vogel des Jahres 2013 weiß Ehlert Erstaunliches zu berichten: Bekassinen, von denen nur ein Brutpaar auf Berliner Terrain bekannt ist, würden auch „Himmelsziegen“ genannt. Der Spitzname stamme vom Balzgeräusch, das sie mit ihren aufgestellten Schwanzfedern erzeugen und das Ehlert so überzeugend nachahmt, dass man bedauert, keine Bekassinenbraut zur Hand zu haben. Zumal Ehlert sagt: „Vögel irren sich nicht.“ Er meint damit seine Beobachtung, dass der Blick eines Vogels nach oben garantiert, dass dort ein weiterer Vogel unterwegs ist. Im Fall der Bekassine ist es meist ein Easyjet-Vogel, der auf dem Weg nach Schönefeld die Gosener Wiesen überquert. Ein praktisch unzugängliches Feuchtgebiet am südöstlichen Stadtrand, an dem viele der besonders seltenen Arten vorkommen. „Eine Traumlandschaft“, sagt Ehlert. Dass die Einflugschneise des BER darüber liegt, schmerzt ihn einerseits. Andererseits weiß er, dass regelmäßiger Lärm die Natur relativ wenig stört.

Vögel sind ohnehin einiges gewohnt: 90 Prozent der in Berlin erfassten Arten haben einen Migrationshintergrund, sind also entweder nur im Winter hier – Ehlert weiß ganz aktuell von etwa 200 bildschönen Seidenschwänzen im Botanischen Garten – oder nur im Sommerhalbjahr. Für die meisten kleineren Tierarten können die Experten des Senats keine verlässliche Schätzung liefern. Sie sind nur sicher, dass es keine migrierenden Schnecken gibt.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false