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Geschichtsträchtiger Ort. Das Nicolaihaus in der Brüderstraße 13 in Mitte - Lessing und Mendelssohn waren auch für Nicolai Inspirationsquellen.

© Thilo Rückeis

Die Wurzeln von Berlin: Die Aufklärung als Leitbild für die historische Mitte

Eine Idee für die Berliner Mitte. In der Altstadt südlich des Schlossplatzes wagten einst Lessing und Mendelssohn die Versöhnung. Das könnte ein Vorbild für heute sein.

Es gibt sie: die starke urbanitäts- und identitätsstiftende Idee für die Wiederbelebung des ehemaligen Altstadt-Areals vor dem Roten Rathaus. Dass sie bisher in der Debatte um die IBA nicht bemerkt worden ist, hat wohl den Grund, dass sie nicht aus der Baugeschichte der Altstadt abzuleiten ist, sondern aus dem, was sich in dieser Altstadt ereignet hat. Gemeint ist der Freundschaftsbund zwischen Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn, der als christlich-jüdisches Symbiose-Experiment ohne Vorbild in der europäischen Geschichte war und Mendelssohn ermächtigte, im Verlauf einer Generation zum Begründer des modernen säkularen Judentums zu werden.

Als der 19-jährige Lessing 1748 nach Berlin kam, um sich dort – nach geschmissenem Leipziger Theologiestudium – als Journalist und Stückeschreiber durchzubringen, lernte er nicht nur wohlhabende, sondern auch hochgebildete und weltläufige Juden kennen. Aus diesen Begegnungen schrieb er mit jugendlichem Feuer ein Theaterstück, in dem ein edler Jude das christliche Vorurteil gegen sein Volk widerlegt. Die Sprache der Aufklärung, die in Berlin damals König Friedrich II. und sein französischer Gast Voltaire – beide wenig judenfreundlich – für sich gepachtet hatten, spricht in diesem Stück der als solcher unerkannte Jude, die Sprache der Naivität, Heuchelei, ja Kriminalität die christliche Gegenseite.

Das war, milde gesagt, starker Tobak. Lessing behielt sein Stück fünf Jahre in der Schublade und schien sich stattdessen in die damals beginnende Publizistik gegen die skandalöse Rechtslage der Juden in Preußen einzufädeln. Doch dann lernte er, 1754, den gleichaltrigen Moses Mendelssohn kennen und revidierte seinen Weg. Er bot dem mittellosen und verwachsenen, aber charismatisch wirkenden jungen Mann nicht seinen Rechtsbeistand und seinen journalistischen Schutz an, sondern seine Freundschaft. Zusammenleben zwischen Christen und Juden, sei es in der Ehe, sei es in gelehrter Zusammenarbeit, sei es in Freundschaft, war um 1750 weder im konfessionellen Recht noch in der öffentlichen Meinung vorgesehen. Nimmt man hinzu, dass es auch kein abrufbares Vorbild für eine solche Freundschaft gab, stellt sich die Sache als ein historisches Wagnis ersten Ranges dar.

Zumal die beiden ihren Freundschaftsbund keineswegs verbargen. Ob in der Altstadt, wo sie beide wohnten, oder unter den Schachspielern im Kaffeehaus, sie wurden stets beobachtet. Im Jahr 1755 trafen sie sich, wie Mendelssohn später berichtete, fast täglich, um zu philosophieren, wobei Lessing sich herausnahm, einen dieser Versuche seines Freundes ohne dessen Wissen zu publizieren. Noch im selben Jahr veröffentlichten sie eine gemeinsame Streitschrift gegen die Akademie und wenig später, als der 22-jährige Buchhändlersohn Friedrich Nicolai zu den beiden 26-jährigen Dissidenten gestoßen war, baute man den jüdischen Freund als Mitherausgeber in zwei gemeinsame Zeitschriftenprojekte ein. Nirgendwo in Europa wurde derlei damals gewagt.

So weit wir wissen, hat Lessing den lange ausweisungsgefährdeten Mendelssohn nicht als Sozialfall behandelt. Seine Strategie war die der intellektuellen Anerkennung. Statt über Religionsdifferenzen sprach man über gemeinsame Interessen wie das Theater. Die Folgen dieses Inklusionsexperiments sind bekannt; Berlin wurde durch Mendelssohn und Lessing zum Ausgangspunkt der jüdischen Aufklärung, der Ort, an dem die Vernichtung der Juden beschlossen wurde, war auch der historische Ort, von dem aus sie in die säkulare Welt hinaustraten. Damit muss Berlin leben. Als Anknüpfungspunkt bleibt nur, was 1755 in der Altstadt geschah und was Harald Bodenschatz, Florian Mausbach und ich in der Akademie der Wissenschaften jüngst als eine „Urszene moderner Urbanität“ beschrieben haben – und die Lessing 1779, zwei Jahre vor seinem Tod, in sein letztes Meisterwerk „Nathan der Weise“ transformierte. Dass er dabei auch Muslime ins Spiel brachte, wirkt wie ein ahnungsvoller Vorgriff auf die ethnisch durchmischten Großstädte von heute, in denen die Anerkennung des Fremden im freien Gespräch mehr denn je vonnöten ist.

Conrad Wiedemann

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