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Berlin: Dieter Bernhardt (Geb. 1958)

Am Ende war der Vorrat an Hoffnung erschöpft.

Die Gefühlskälte und Gleichgültigkeit in der Gesellschaft könne er nicht länger ertragen, schrieb er in seinem Abschiedsbrief. Dann nahm er Tabletten, dichtete die Türen ab und entzündete einen Tischgrill.

Hinter sich ließ er ein Leben, das so tragisch begonnen hatte, wie es endete. In einem Leipziger Zuchthaus kam er zur Welt. Die DDR, die bei Dieter nur Dädärädä hieß, steckte ihn in ein Heim und verschwieg, wer Mutter und Vater waren. Am Wochenende durfte er zu Pflegeeltern. Heimkind zu sein war nicht per se schlecht, nur das Umziehen von einem Heim ins nächste machte Dieter zu schaffen. Umziehen sollte der Mensch nur, so wuchs später Dieters Überzeugung, wenn er es selber möchte und einschätzen kann, welchen Preis er bezahlen wird.

Schön waren die Jahre, als sie in einem Schloss wohnten, im „Vorschulheim“ mitten in Leipzig mit einem riesigen Park zum Versteckspielen. Nach der zweiten Klasse war damit Schluss.

Die Pflegeeltern hatten ihm gesagt, dass seine Mutter ihn die Treppe hinuntergestoßen habe, daher sein krummer Rücken. Eine Lüge. Und es gab die Drohung, dass er noch mal so enden würde wie seine Mutter. Jahrelang fahndete Dieter nach ihr und seiner Halbschwester, kämpfte gegen Behörden und Heimleitungen, aber die Dädärädä hielt dicht.

Nach dem Abitur wollte Dieter Lehrer werden, der Amtsarzt stellte jedoch Knötchen auf den Stimmbändern fest. Zum Trost bot ihm die Partei ein Jurastudium in Berlin an. Dieter sagte zu, obwohl er Kandidat der SED werden musste und drei Jahre Wehrdienst drohten. Der NVA war sein Rücken dann doch zu krumm. Mit dem Studium wurde es aber auch nichts. Ein Volontariat im Bezirksgericht Leipzig überzeugte Dieter davon, dass die Rechtsprechung mit seinem Rechtsempfinden nicht in Einklang zu bringen war. Er wechselte in die Gastronomie, ins Restaurant „Altes Kloster“, das einzige Wildrestaurant der DDR, wo viel getrunken, herumgeblödelt und gelacht wurde. Dort hatte er das Gefühl, sich nicht ständig verbiegen und verleugnen zu müssen. Dieter war schwul, und damit hatte die offizielle Dädärädä so ihre Probleme. 1981 stellte er einen Ausreiseantrag. Vielleicht ließ sich ja im Westen klären, wer er war.

SED und Stasi reagierten vergrätzt und beleidigt. Warum er Partei und Staat nicht mehr Dankbarkeit entgegenbringen könne? Er hätte doch studieren sollen, und das als Heimkind aus schwierigen Verhältnissen. Die „Leipziger Zeitung“ hatte über seine sozialistische Musterlaufbahn sogar einen Artikel geschrieben, der Dieter allerdings eine Ohrfeige von seiner Pflegemutter einbrachte, weil sie darin nicht erwähnt wurde. Die Herren von der Stasi boten ihm eine Neubauwohnung an. Das Jurastudium könne er immer noch aufnehmen. Aber Dieter hatte das alles einfach satt. Er wurde verhaftet und verhört. Dann ließen sie ihn ziehen.

Und der Westen? War auch nicht so golden. Vor allem nicht in der Provinz. Dieter ging von Wolfsburg nach West- Berlin, um nicht am spießbürgerlichen Muff zu ersticken. Und von dort weiter nach Amsterdam, zu einer großen Liebe, die mit der Zeit leider schrumpfte. Nur seine Mutter ging ihm nicht aus dem Kopf. Als er fast schon aufgegeben hatte, schickte ihm sein West-Berliner Anwalt eine Adresse. Die war zunächst wertlos, weil Dieter nicht in die DDR reisen durfte, aber 1989, im November, war es schließlich so weit. Mit zwei Freunden fuhr er in das kleine Dorf, in dem die Mutter lebte. Die Begegnung mit ihr verwandelte seine große Sehnsucht in eine tiefe Traurigkeit. Die fahrige, hilflose und gebrochene Frau, eine „lebende Mumie“, blieb ihm völlig fremd. Von jetzt an musste er ganz ohne Mutter leben.

Dieter gründete seine eigene Familie, mit Freunden, die wie Geschwister waren. Zusammen machten sie Ausflüge, kochten Marmelade ein, backten Plätzchen, feierten Weihnachten. Von Jutta, seiner Ersatzmutter, wünschte er sich selbst gestrickte Wollsocken. Dazu frisierte er sich, je nach Laune, einen Lockenteppich auf den Kopf, ließ sich große Ringe in die Ohrläppchen einarbeiten und probierte ein Nasenpiercing aus. Man drehte sich nach ihm um. Dabei wollte er gar nicht auffallen. Bei ihm zu Hause war es immer aufgeräumt und sauber. Unpünktlichkeit hasste er.

Über seine Vergangenheit mochte er nicht viel erzählen. Bis er eines Tages auf die Idee kam, sich ein Internet-Pseudonym zuzulegen und das Leben dieses geheimnisvollen Wesens in Blog-Häppchen der Netzgemeinde zu offenbaren.

Als er damit anfing, war er schon schwer krebskrank, HIV positiv und frühpensionierter Gewerbelehrer. Den Traum, Lehrer zu werden, hatte er sich noch erfüllt.

Den letzten Kampf seines Lebens focht er mit großer Leidenschaft gegen die Mieterhöhungen in Sozialwohnungen. Er hängte ein Protest-Transparent an seinen Balkon, sprach mit Politikern, mobilisierte seine Nachbarn und trat im Fernsehen auf. Die Resonanz, so empfand es Dieter, war erschreckend schwach.

Die Schlagzeilen, die unter die Haut gehen, kamen erst, nachdem er zu kämpfen aufgegeben hatte: „Wenn deutsche Sozialpolitik tötet“. „Tod eines Mieters“.

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