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Berlin: Ditmar Gdanietz (Geb. 1943)

„Fall niemand auf der Straße an, der Schüler ist von Erich Rahn.“

Ein großer, stämmiger Mann mit grauer Meckifrisur und grimmigem Gesichtsausdruck betritt an Krücken die „Kretische Ecke“ in Lichterfelde. Ein jüngerer Mann springt auf und ruft: „Nix für ungut, Dickie, ich hab dir deinen Platz nur warm gehalten.“ Dickie lächelt, dann lässt er sich nieder. Hier sitzt er seit Jahrzehnten, und jeder in der „Kretischen Ecke“ weiß das. Im Kiez ist Dickie eine Legende.

„Wie geht’s?“, fragt ein anderer am Stammtisch. – „Hab’ abgenommen“, sagt Dickie mit Bass-Stimme. „Das einzig Gute an der Scheiß-Chemo.“ – „Früher haste dich ja immer gequält mit deinen Diäten.“ – „Bringt ja alles nix. Ist der Stoffwechsel. Ist alles der Stoffwechsel. Jetzt bin ich schon bei 105 Kilo. Wie mit 16.“

Mit 16 wurde Dickie bereits als Trainer eingesetzt, in der Sportschule Rahn, der ersten Jiu-Jitsu-Schule Deutschlands. Seit seinem 13. Lebensjahr war Dickie Schüler von Erich Rahn. Er hatte ein Buch von Rahn gelesen und sich die ersten Griffe selbst beigebracht hatte. Rahn war ein ganz Großer in dem Kampfsport. In seinen jungen Jahren hatte er jedem, der ihn besiegte, 3000 Reichsmark geboten. Volksfeste hatten sich aus solchen Kämpfen ergeben. Egal welcher Kirmesboxer gegen ihn antrat, Rahn mit seinem Jiu Jitsu musste nie zahlen. In Berlin gab es den Spruch „Fall niemand auf der Straße an, der Schüler ist von Erich Rahn.“

Dickie wurde Rahns bester Schüler. 1966 ernannte Rahn Dickie zum Cheftrainer. Bald darauf gründete Dickie den Deutschen Jiu-Jitsu-Ring, um auf der Basis des Rahn-Konzeptes den Jiu-Jitsu Sport weiter zu verbreiten. 1987 erhielt Dickie den zehnten Dan, einen Grad, den in Deutschland heute nur einer innehat. Dickie hatte seinen Lehrmeister bis zum Tode gepflegt, fast täglich nach ihm gesehen und für ihn eingekauft.

Als sich das tägliche Training und die unzähligen Kämpfe in den Knien, dem Rücken und der Hüfte niederschlugen, wurde Dickie Frührentner und widmete sich nun, unterstützt von seiner Frau, ganz der Leitung der Sportschule in Lichterfelde. Alles und jeden erfasste Dickie auf seinen Karteikarten. Später organisierte er die Dinge mit dem Computer. Mit großer Verbissenheit hatte er sich das beigebracht. Technik wurde ohnehin mehr und mehr zu Dickies Steckenpferd, nachdem er sich bei Kämpfen und Trainings zurückhalten musste. Wie auf Knopfdruck konnte er alle wichtigen Daten der neusten Mobiltelefone oder Fernsehapparate hersagen. Seine Autos mussten aussehen und fahren wie neu, jede Kleinigkeit wurde sofort repariert und ausgebessert.

Lange Ferien machte Dickie selten. Wenn er mit seiner Frau einen Kurzurlaub an der Ostsee oder in Südtirol machte, sagten beide bei der Rückkehr, dass es in Berlin halt doch am schönsten sei. Sie hatten eine Laube am Priesterweg. Dickies Schwester hatte ihre Laube gleich nebenan.

Die Schwester war es auch, die ihrem Bruder Stammzellen spendete, als man bei ihm 2006 Leukämie diagnostizierte. Die Transplantation war erfolgreich, die Chemo-Therapie aber setzte das Immunsystem auf Null. „Ich komm wieder hoch“, sagte Dickie am Stammtisch. Dennoch hatte er bereits ein Adressenregister zusammengestellt, für den Fall. Schließlich kannte er in seinem Kiez und in der Kampfsportszene Tod und Teufel – die Arbeit wollte er seiner Frau nicht zumuten.

Die Gespräche im Stammtisch sind in vollem Gange. Die Jüngeren drängen Dickie, von seinen Kämpfen zu erzählen, damals, als er mit abgedunkelter Sonnenbrille und Kurzhaarschnitt Furore machte. Wie der stämmige, 1,90 Meter große Bursche blitzschnell in Kopfhöhe treten und aus dem Stand meterhoch springen konnte. Mit leuchteten Augen lauschen sie seiner Bass-Stimme, um so lieber, weil Dickie nie angibt und nüchtern erzählt. Niemand ahnt, dass das sein letzter Abend am Stammtisch ist. Anselm Neft

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