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Berlin: Dorothea Lehmann (Geb. 1945)

Aber jetzt ist sie ja hier, in Afrika, in Tansania

Es geht los. Runter auf die Straße, ins Taxi, durch die Stadt, Menschen in Mänteln, Berlin im November. Pass, Visum, rein in die Maschine, anschnallen, den Sitz gerade, ein Ziehen in der Magengrube, das Flugzeug steigt in den Himmel, dreht gen Süden. Unten das Mittelmeer, Griechenland, jetzt schon Ägypten, der Sudan. Dann Tansania, Daressalam. Raus aus der Maschine, Pass, Visum, die Fahrt zum Hotel, Menschen in hellen Kleidern, Afrika im November.

Das Licht auf diesem Kontinent, der Geruch der Luft bei Regen, die Geräusche. Dorotheas Kindheitsort. In Peking ist sie zur Welt gekommen, aber an Peking kann sie sich nicht mehr erinnern. Ihre Mutter war dort Missionarin und hat ihren Vater, einen Pfarrer, geheiratet, und nachdem im Oktober 1949 die Volksrepublik ausgerufen worden war, sind sie nach Südafrika gezogen, nach Pretoria, in ein kleines Haus neben einer weiß getünchten Kirche. Haus und Kirche lagen in einem Kessel, in dem sich die Hitze staute, dass die Kerzen am Weihnachtsbaum schmolzen. Die Temperaturen machten ihr anfangs zu schaffen, immer hatte sie einen roten Kopf, und die anderen Kinder witzelten darüber.

Weil Dorothea ein weißes Mädchen war, ging sie auf eine englischsprachige Schule für weiße Mädchen, schwarze Mädchen traf sie kaum. Deren Schulen waren weit weg, in den Townships. Das hat sich verändert; wenn sie heute durch Pretoria läuft, kommen ihr nicht nur Weiße entgegen. Ihre Mutter, Emily Lehmann, hat 1966 ein Buch über die Verhältnisse in Südafrika geschrieben, „Pretoria, Skinnerstraat 295“, die Adresse, wo Dorothea mit ihren Eltern und den beiden Geschwistern wohnte. Die Lehrerinnen an der „Girls High“ mochte Dorothea, diese Mischung aus Klugheit und Disziplin, genauso wollte sie später auch werden. Sie erinnert sich noch gut an diese Diskussion der Lehrer an ihrer Berliner Schule, am Paul-Natorp-Gymnasium, wo sie 20 Jahre lang Fachbereichsleiterin für Englisch war. Es ging um Graffitis, die ein paar Schüler gesprüht hatten; die Lehrer debattierten, wie man reagieren soll. „Die Schüler haben Destruktivität in Kreativität umgewandelt“, meinten manche. Dorothea fand das lächerlich. Warum Verständnis heucheln, statt eine klare Linie vorzugeben.

Aber jetzt ist sie ja hier, in Afrika, in Tansania. Fünf Monate wird sie an der Universität in Iringa englische Literatur unterrichten, dann weiterfahren, einfach so, über den Kontinent. Sie hätte auch noch ein paar Jahre in Berlin bleiben können, mit 63 muss man nicht in Rente gehen, aber sie wollte diesen Schnitt. Die letzten 20 Jahre waren gut, keine Frage. Sie mochte ihre Arbeit in Deutschland, und natürlich die Kinder, ihnen etwas von der Welt zu zeigen, nicht nur englische Vokabeln und abgenutzte Phrasen vorsetzen. In die Schaubühne, zu Shakespeares Sonetten nahm sie eine Schülerin mit, die dann später auch Anglistik studierte.

Manchmal, wenn sie unterwegs ist – und sie ist unaufhörlich unterwegs, im Theater, in der Oper, an der Ostsee, im Harz, in fernen Ländern – schreibt sie Gedichte und schickt sie Freunden. Die Freunde ihrerseits suchen auf Reisen Postkarten für sie, immer mit lesenden Frauen oder lesenden Männern darauf. Sie hat viele Freundschaften, über Kontinente und Zeiten hinweg. Ständig kommt jemand zu Besuch, sie schläft dann auf dem Sofa, mancher kann sich ein Hotel eben nicht leisten, wenn sie helfen kann, dann hilft sie.

Für das Semester an der Universität von Iringa hat sie sich viel vorgenommen, J. M. Coetzee will sie mit den Studenten lesen und Antjie Krog, die mit einem Buch über die südafrikanische Wahrheitskommission berühmt geworden ist. Dorothea möchte mehr, als nur über die Schönheit der Sprache dozieren. Das Bewusstsein der jungen Leute für die Probleme ihres Kontinents will sie schärfen, Diktaturen, Aids, Frauenrechte. Vielleicht werden die Studenten ein bisschen lächeln, wenn sie zum ersten Mal vor sie treten wird, zart und klein, mit ihrem jungenhaften Pony. Hören sie sie aber sprechen, werden sie merken, dass Dorothea kein zaghaftes Persönchen ist. Ihre Stimme ist eine geschulte, seit Jahren singt sie in Kirchenchören. Und das freie Reden fällt ihr leicht, wie gedruckt klingen ihre Sätze.

Aber noch ist sie in Daressalam, im Hotel. Sie muss weiter, ins Landesinnere nach Iringa. Der Dekan der Universität wartet mit einem Chauffeur. Sie fahren los, die Stadt liegt jetzt hinter ihnen, die Straßen haben auch schon bessere Zeiten gesehen, es geht durch den Mikumi-Nationalpark, weite Grasflächen, Akazien, Affenbrotbäume, Giraffen. Sie kramt den Fotoapparat aus der Tasche. Dann lässt sie den Apparat sinken, ein riesiger Lkw liegt auf der Straße, sie fahren weiter, am Unfall vorbei, eine halbe Stunde darauf gerät der Wagen ins Schlingern, ein Radfahrer, der Chauffeur versucht, ihm auszuweichen.

Dorotheas Kamera ist unbeschädigt. Man kann sehen, was sie zuletzt gesehen hat, Giraffen, weite Grasflächen, Affenbrotbäume. Afrika.

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