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Berlin: Dorothea Rohde (Geb. 1915)

Ihr Notarztwagen war ein Fahrrad, ihre Wege führten über Land

So rotbäckig und stabil war sie, dass die Eltern fanden, Dorothea brauche im Gegensatz zu ihren vier Geschwistern den täglichen Löffel Lebertran nicht. Ein Glück? Nein, riesengroßes Pech! Denn ohne Lebertran auch kein Schokoplätzchen gegen den schlechten Geschmack.

Sie lernte früh, dass sie belastbar war, belastbarer als andere vielleicht. Und dass sie in der Lage war, zu koordinieren, Schwächeren zu helfen, eine Anführerrolle zu übernehmen.

So wie der Vater. Als Vierjährige lag sie hinter den geschlossenen Rollläden ihres Kreuzberger Kinderzimmers und konnte nicht schlafen, weil Schüsse zu hören waren und schwere Stiefelschritte. Es waren die Revolutionstage des Winters 1919 / 1920, ihr Vater, ein evangelischer Pfarrer, hatte sich der Bürgerwehr angeschlossen. Dorothea bangte um ihn, bangte darum, ob er wiederkommen würde, unversehrt. Er kam wieder. Natürlich kam er wieder. Unversehrt. Er war stark. So wie sie.

Ihr Traum war es, Ärztin zu werden. Doch es kam anders. Ebenso groß wie der Wunsch, Ärztin zu werden, war der Wunsch, möglichst schnell ein eigenes Leben zu beginnen, herauszuheiraten aus dem Elternhaus. Auf einem Fest der Theologischen Verbindung, zu dem ihr Vater sie mitnahm, lernte die 17-Jährige den deutlich älteren Ernst Rohde kennen. Als der Bräutigam nach Pitschkau berufen wurde, stand fest, dass Dorothea sich auf ein Leben als „Landpfarrfrau“ vorzubereiten hatte. Also besuchte sie nach ihrem Abitur statt medizinischer Seminare Koch-, Näh-, Wasch- und Backkurse. Der längste und ihr liebste Kurs war der in Krankenpflege.

1935 war es so weit: Unter den argwöhnischen Blicken der Bauern wurde zu Ehren des neuen Landpfarrers und dessen junger Ehefrau beim Gutsherren ein Festmahl ausgerichtet. Sie lebten sich schnell ein in die dörfliche Gemeinschaft.

Es folgten kurze Jahre eines ruhigen Glücks. Bis 1937 der Dorfpolizist bei ihnen klopfte: Er habe den Auftrag, den Herrn Pfarrer zu verhaften. Wie auch Dorotheas Vater gehörte Ernst Rohde zur Bekennenden Kirche. Zwar kam er einen Monat später wieder frei, doch erhielt er bald darauf seinen Einberufungsbefehl.

Dorothea, inzwischen Mutter von zwei Kindern, beschloss, sich nicht abwartend zurückzuziehen, sondern das Steuerrad des Gemeindelebens von Pitschkau zu übernehmen. Während sich daheim ein Kindermädchen um ihre Kleinen kümmerte, hielt sie Frauentreffen und Kinderstunden ab, veranstaltete Kindergottesdienste, gab Konfirmandenunterricht, spielte die Orgel, tröstete die Trauernden.

Und begann, ganz unverhofft, doch noch als Ärztin zu arbeiten, jedenfalls beinahe. Da es in den vier Dörfern der Gemeinde keine Krankenschwester gab, war sie es, die die Wöchnerinnen und Kranken besuchte und versorgte. Der Arzt, der nur eine geringe Benzinzuteilung hatte, beriet sich mit ihr am Telefon, schickte Medikamente und kam erst dann, wenn Dorothea seinen Besuch für unerlässlich hielt.

Ihr Notarztwagen war ein Fahrrad, ihre Wege führten über Land. In den Wäldern strichen zunehmend flüchtige Kriegsgefangene herum. Angst genehmigte sie sich nicht. „Ich lernte, wie wichtig Mondschein ist“, war alles, was sie später darüber sagte.

Auch das Ausstellen von „Arierurkunden“ mithilfe der alten Kirchenbücher gehörte zu den Aufgaben einer Landpfarrfrau. Das bescherte Dorothea eine neue Art von Patienten: Menschen, von einer Art Ahnenfieber befallen, die bei ihr logierten, weil sie ihren Stammbaum nicht weit genug zurückverfolgen konnten. Als wäre sonst nichts los in Deutschland.

Flüchtlingstrecks rollten durch Pitschkau und hinterließen an den Wegrändern Tote und Halbtote wie Strandgut. Tag und Nacht versorgte Dorothea Wunden und Erfrierungen, verabreichte heißen Tee, machte Kamillenbäder, wickelte Verbände aus zerrissenem Bettzeug.

Als der Kanonendonner auch in Pitschkau zu hören war, flüchtete sie auf dem Gutsherren-Treck, bestehend aus einem Traktor und zwei Anhängern. Ein Privileg im Vergleich zu den Tausenden, die sich zu Fuß, Kinder und Alte auf dem Rücken, westwärts schleppten.

So kehrte sie in ihr Elternhaus zurück, zwei Kinder, kein Mann, kein Geld. Aber sie lebten. Sie, ihre Kinder, ihre Eltern. Nichts war weniger selbstverständlich.

Und auch Ernst Rohde lebte. 1945 stand er vor den ausgebombten Fenstern und stieß leise den „Familienpfiff“ aus, der Auftakt für einen neuen Beginn.

Ein drittes Kind wurde geboren. Bis in die Mitte der siebziger Jahre hinein wurde von den Pfarrfrauen der Verzicht auf Berufstätigkeit verlangt. Doch Dorothea wollte von dem einmal aufgenommenen Kurs nicht mehr lassen. Sie begann als Bezirksverordnete und als Bürgerdeputierte für Sozialwesen zu arbeiten, zunächst in Kreuzberg, dann in Steglitz.

So wenig sie sich ihr politisches Engagement verbieten ließ, so sehr mühte sie sich, alle Rollen perfekt zu füllen: Mutter, Pfarrfrau, Politikerin.

„Ich bin eben preußisch“, sagte sie einmal. Ihre Lieblingsfarbe war blau, in allen Facetten.

Noch mit über 60 absolvierte sie einen Altenpflegekurs und arbeitete in Altenheimen. Erst in den letzten Wochen vor ihrem Tod wurde sie schwach, begann sie sich zu lösen. „Ich will nach Hause“, sagte sie zu ihrem Enkel. Anne Jelena Schulte

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