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Berlin: Dorothea Schüling (Geb. 1940)

Fachärztin konnte sie jedenfalls nicht mehr werden

Wer in die Praxis von Dorothea Schüling kam, dem wurde nicht nur das Stethoskop auf die Brust gesetzt oder der Blutdruck gemessen. Die Hausärztin wollte mehr wissen: Wie hoch ist Ihre Arbeitsbelastung? Gibt es Streit in der Familie? Sind Freunde da, die Sie unterstützen? Krankheit war für sie nicht nur ein organisches Problem. Erst schrieb sie ein Rezept, dann überlegte sie mit dem Patienten, wie sich seine Lage verbessern ließe. Eine Ärztin, fand sie, muss wissen, wie die Menschen leben. Sie muss wissen, warum es den einen schlechter geht als den anderen. Und für die Ersteren muss sie sich einsetzen. Die Überzeugung machte ihr das Leben nicht leichter.

Am Anfang wollte sie Handchirurgin werden. Als junge Assistenzärztin im Lazarus-Krankenhaus interessierte sie sich für berufsbedingte Unfälle. Zu der Zeit war sie in linken Gruppen aktiv, ging raus auf die Straße, diskutierte in Kellern. Es waren die frühen Siebziger und die Zeit des Radikalenerlasses: Wer sich für Kommunisten und Umstürzler einsetzte, war dem Staat verdächtig und konnte seinen Job verlieren. Noch während der Probezeit wurde Dorothea Schüling gekündigt. Wie radikal sie tatsächlich war? Schwer zu sagen. Fachärztin konnte sie jedenfalls nicht mehr werden.

Sie eröffnete eine Praxis als Hausärztin. Natürlich nicht in Zehlendorf, sondern in Neukölln an der Hermannstraße, wo man das Sternburger Pils damals noch trank, nicht weil es trashig-hip, sondern weil es billig war. Hier konnte sie sich um die Menschen kümmern, für die sie unter roten Fahnen Gerechtigkeit gefordert hatte. Sie tat das nicht immer nach Maßgabe der Krankenkassen: Sie behandelte Flüchtlinge ohne Aufenthaltsgenehmigung. Sie betreute einen Todkranken in einem Wohnprojekt und ermöglichte ihm, zu Hause zu sterben. Sie war eine Kiezärztin und suchte ihre Patienten auch mal in der Eckkneipe auf. „Du hast Atembeschwerden? Dann rauch doch eine!“, sagte sie und steckte sich grinsend selbst eine Roth-Händle an.

Am Wochenende fand man sie im Mehringhof, wo sie mit anderen den Gesundheitsladen gegründet hatte. Hier beriet sie Patienten. Oder organisierte eine historische Tagung über Ärzte mit Hakenkreuzbinde unterm Kittel. Derlei Aufklärung war für Dorothea Schüling eine Fortsetzung ihrer ärztlichen Tätigkeit mit anderen Mitteln.

„Kommt jemand mit einem Problem, dann finde ich eine Lösung. Das kann ich. Und dann geht es mir gut.“ So wichtig sie für ihre Patienten war, so wichtig waren ihre Patienten für sie. Drei Jahre war sie alt, als ihre Mutter starb. Sie kam in ein Pflegeheim, später zu einer Tante; der Vater, wie schon der Großvater ein angesehener Chirurg, war nicht für sie da. Kein Halt, nirgends. Umso stärker ihr Wunsch, inmitten von Menschen zu stehen. Die Mitte schuf sie sich mit ihrer Praxis.

Erst mit 70 hörte sie auf zu arbeiten. Aber was sollte sie, die im Dienst an den Kranken ihren ganzen Sinn gefunden hatte, mit dem Ruhestand anfangen? Vor einigen Jahren war ihr Lebensgefährte Harro gestorben, nun verlor sie ihren Lebensinhalt. Zwar hatte sie Freunde und Bekannte; ein ehemaliger Patient nahm sie mit zu einem altlinken Stammtisch im Mehringhof. Aber sie fand nicht mehr unter Leute wie früher. Die Leere war nicht zu füllen.

Und die Therapeutin? Dorothea Schüling konnte sie nicht richtig akzeptieren. Die Ärztin, das war doch sie! Sich selbst helfen zu lassen war der Helferin kaum möglich.

„Hast du mein Buch dabei?“, fragte eine Freundin bei einem Treffen im Sommer. Dorothea Schüling hatte das geliehene Buch vergessen. Sie ging sofort in einen Laden und kaufte es neu. Sie wusste, sie würde die Freundin nicht wiedersehen.

Felix Lampe

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