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Berlin: Drei Jahre Arbeit für die Justiz – wegen einer toten Taube

Berliner Gerichte sind chronisch überlastet. Doch sie hatten viel Zeit für den Fall eines Pensionärs, der den Vogel abgeschossen haben soll

Vielleicht hatte sie sich mit letzter Kraft auf einen recht hohen Baum in Lichterfelde niedergelassen. Vielleicht aber wurde sie hinterrücks abgeschossen. Auf jeden Fall fiel die Taube plötzlich vom Ast auf den Gehweg – und Anwohner Helmut W. verbuddelte den toten Vogel flugs in seinem Garten. Doch damit war die Sache nicht erledigt, damit fing sie erst so richtig an.

Die Justiz, die so oft über Überlastung klagt, ließ den Fall drei Jahre lang nicht aus den Augen. Gestern kam es schließlich zu einem zweiten Prozess gegen den 77-jährigen W. vor dem Amtsgericht Tiergarten – und endlich zu einem abschließenden Urteil.

Dabei ging es am Anfang gar nicht um die Taube. Besorgte Mütter hatten am 9. Juni 2000, dem „Tattag“, die Polizei alarmiert. Sie hatten aus Richtung des Grundstücks von W. Schüsse gehört. Sie vermuteten, dass der Pensionär auf den Vogel schoss, während ihre Kinder in der Nähe spielten. Augenzeugen aber gab es nicht. Die Polizei rückte mit drei Einsatzwagen an. Helmut W. wurde nach Waffen gefragt. Er übergab sein 30 Jahre altes Luftgewehr, für das man keinen Waffenschein braucht. Doch dann kam noch der tote Vogel ins Spiel. Wer ein Wirbeltier ohne vernünftigen Grund tötet, der macht sich strafbar. Prompt flatterte W. ein Strafbefehl ins Haus. 1400 Euro Strafe wurden ihm angedroht, sollte er sich noch einmal etwas zu- schulden kommen lassen. Der Pensionär war erbost und legte Einspruch ein. Im ersten Prozess vor einem Jahr fehlen Zeugen. Zu diesem zweiten ließ die Richterin nun gleich sieben Zeugen aufmarschieren.

„Ich habe aber nicht geschossen, sie ist absolut tot vom Baum gefallen, und ich habe sie begraben, wie es sich gehört“, beteuert Helmut W. Er arbeitete früher als Gerichtschemiker. Er will keine Verletzung an der Taube festgestellt haben. „Sie ist vergiftet worden.“ Seiner Meinung nach im Rahmen einer damaligen Kampagne zur Bekämpfung von Schädlingen. Und überhaupt, trumpft der Pensionär auf. „Das war eine streunende Straßentaube“, die zu vernichten sei. Selbst wenn er geschossen hätte, wäre er im Recht.

Nein, hält ihm der Staatsanwalt entgegen. „Die Taube ist ein Wirbeltier und damit geschützt, die dürfen Sie nicht vom Baum schießen“, setzt die Richterin nach. Der Chemiker bleibt stur. „Überzeugt haben Sie mich nicht.“ Er hat sich gut vorbereitet, zitiert aus dem Bundesseuchengesetz und aus einer internationalen Studie. Doch nach einem Gespräch mit seinem Anwalt hat er die Nase voll und willigt in ein Angebot des Anklägers ein: Einstellung des Verfahrens gegen 500 Euro Geldbuße. Davon sollen 250 Euro an die Staatskasse gehen, weil W. mit seinem Einspruch „viel Kosten produziert“ hat, die andere Hälfte bekommt der Tierschutzverein. Dass die Justiz einen solchen Wirbel um ein Wirbeltier macht, ist dem bislang unbescholtenen Pensionär unbegreiflich. Obwohl er sich unschuldig fühlt, zahlt er. „Die Sache muss ja mal ein Ende haben“, sagt er, sein Verteidiger fand die Beweislage „ungünstig“.

Ähnlich schwer nachvollziehbare Prozesse laufen immer wieder. Kürzlich etwa der eines Studenten, der mit Wasser gefüllte Plastiktüten auf eine Nachbarin geworfen hatte. Das Verfahren wurde gegen Zahlung einer Geldbuße eingestellt. Um solche Nachbarstreitigkeiten von Gerichten fern zu halten, gibt es seit 2001 das „Gesetz zur Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung“. Demnach ist eine Klage bei Fragen des Nachbarrechts nur dann zulässig, wenn zuvor ein obligatorisches Schlichtungsverfahren durchgeführt wurde.

Kerstin Gehrke

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