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Berlin: Eberhard Hellwig (Geb. 1961)

Dank konnte keiner erwarten, dafür das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben

Sein ramponierter, in zähem Ringen vom Sozialamt ertrotzter Rollstuhl steht in einem vollgesprayten Hauseingang in der Kreuzberger Oranienstraße. Ein verwelktes Blumensträußchen liegt drin, jemand hat die Lebensdaten des Besitzers an die Rückenlehne gemalt. „Langer“ steht da, denn so nannten alle den Zweimetermann mit Zopf, auch die aus seinem linken Hausprojekt.

„Ist der böse dicke Mann jetzt tot?“, fragt ein Kind seinen Vater an jenem Ort, wo er viele Jahre in seinem Rollstuhl saß, um Vorbeilaufende zu erschrecken oder aufzufordern, ihn irgendwohin zu schieben. Dank konnte keiner erwarten, dafür Beschimpfungen und das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben mit diesem polternden Menschen, dessen Lebensfrust so spürbar war wie sein verbliebener Triumph, über sein Handicap Aufmerksamkeit und ein letztes Stückchen Macht zu erlangen. Zusammen mit seinem schwergängigen Rollstuhl wog er am Ende weit mehr als drei Zentner. Junge Frauen zum Schieben zu nötigen, war ein perfides Spiel. Vielleicht die letzte Möglichkeit, dem trostlosen Leben etwas Abwechslung und Spaß abzuringen.

Ein Eigenbrötler, Exzentriker und Stinkstiefel war der gebürtige Braunschweiger, der seine Lebensgeschichte und das Engagement seines Umfeldes in die Tonne trat, schon lange. In der Hausbesetzerszene war er schon in den frühen Achtzigern ein Aktivist. Der brutale Tod von Klaus-Jürgen Rattay, der, verfolgt von der Polizei, unter einen Bus geraten war, und die Verhaftung von Mitstreitern wie Kamikaze-Claudia hatten ihn wütend gemacht. Keine Demo in Berlin ohne ihn, wenn anderswo eine stattfand, fuhr er anderswo hin. Und stand in vorderster Front, oft mit Melone und Anzug. Dauerbekifft und dennoch aggressiv gegen das „Schweinesystem“, für viele eine Legende. Schwarzfahren, Landfriedensbruch – alles ist „Widerstand“; bandenmäßiger Ladendiebstahl wird als „proletarischer Einkauf“ deklariert. Gerichtsverfahren gegen ihn und Observierungen sind Auszeichnungen: Das „System“ ist angreifbar.

Ab 1983 das linke Hausprojekt in Kreuzberg, zuerst eine WG mit Chris. Auch wenn sie beide vom Sozialamt leben, sind sie nicht ohne Geschäftsideen. Chris verkauft in Kneipen Kerzen, Eberhard, „der Lange“, verkauft Kondome aus einem selbst gemachten Bauchladen.

Dann, kurz vor Mauerfall der Bruch, der alles auflöst – den Halt, die Haltung, die Persönlichkeit. Ein Trinkunfall? Der Knöchelbruch ist kompliziert, Ärzte versagen möglicherweise und werden zu Feinden, ein Leben lang. Er geht zunächst an Krücken und leiht sich schließlich einen Rollstuhl. Ohne körperliche Not, meint das Sozialamt, das ihm keinen bewilligen will. Sein Phlegma entscheidet: Frustfressen, keine Therapie, keine Medikamente. Die anderen sind schuld!

Jetzt wohnt er in einer Einzimmerwohnung im dritten Stock, die niemand betreten darf. Es heißt, er habe die Wände schwarz gestrichen. Was sicher ist: Es stinkt. Die Nachbarn können im Sommer nicht lüften, wenn seine Fenster offen stehen. Die Sanierung des Hauses, nach wie vor ein Gemeinschaftsprojekt, geschieht um ihn rum. Als nun Schwerbehinderter stellt er völlig überzogene Forderungen. Alle Vermittlungsversuche scheitern.

Auch Chris wendet sich ab. Der Lange ist ihm fremd geworden, alles, wofür er mal eingestanden haben mag, ist längst Geschichte. Er kifft nicht einmal mehr. Andere stellen ihm einen Stuhl in den zweiten Stock, auf dem er beim Aufstieg Pause machen kann. Er hangelt sich am Treppengeländer hoch. Wenn er es nicht schafft, versprühen die Hausbewohner Duftstoffe. Mit sich reden lässt er nicht, Hilfe ist unmöglich. Neubewohner, die es versuchen, stoßen schnell an ihre Grenzen.

Der letzte Kraftakt des Langen, als er sich noch bewegen konnte und wollte, war der Bau einer eigenen Bank gegenüber vom Haus. Aus Schrott, üppig umrankt von Knöterich, seine Pergola. Hier sitzt er oft und schaut auf eine Welt, die schon lange nicht mehr seine ist. Die Straße und das Leben, die Demo-Plakate, die Musik, die aus den Fenstern schallt.

Das Grünflächenamt räumt seinen Fluchtpunkt irgendwann ab. Wildwuchs wird nicht geduldet. Was bleibt ihm noch? Er hat seinen Rollstuhl, aus dem er schimpft, in Wärmestuben ebenso wie in Bussen. Und seinen Körper, der ins Monströse wächst, den Krankheiten peinigen. Er versucht, sie zu ignorieren, lauert im Hauseingang Passanten auf und jagt ihnen Schrecken ein.

Die Hilfskräfte sind zu sechst und brauchen schweres Gerät, um ihn ins Krankenhaus zu schaffen. Umsonst. Eine Nacht kommt er nochmal zurück ins Haus, bleibt bei Herbstkälte im Treppenhaus sitzen, im Rollstuhl. Es kann ihm keiner helfen, der dritte Stock ist unerreichbar. Kurz nachdem er ins Krankenhaus zurückgebracht wurde, versagt sein Herz. Erik Steffen

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