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Berlin: Edith Susini (Geb. 1912)

Das Schlimmste hatte sie erlebt, doch sie ließ alle spüren, dass sie das Leben liebte.

Von David Ensikat

Sie war die verrückte Tante. Michaels erste Erinnerung an sie: Er hockt in seinem Zimmer, hört Musik und hält das Plattencover in den Händen, The Rolling Stones, Between The Buttons. Er wartet nur darauf, dass seine Mutter ruft: „Mach die Musik leiser!“ Stattdessen betritt eine Dame den Raum, dunkles gewelltes Haar, große braune Augen hinter großer runder Brille, beeindruckende Nase, elegantes Kleid. Sie sieht das Stones-Cover in seinen Händen und ruft: „Zwischen de Knöppe? Gute Musik!“

Sie ist Mitte fünfzig, so jemand findet doch die Stones nicht gut! Michaels Eltern bestätigen den Eindruck: Das ist die Tante Edith, die ist ein bisschen komisch, da muss man vorsichtig sein.

Als er sie zum ersten Mal besucht, mit seinen Eltern, da wohnt sie noch bei Tante Traute, in der finsteren Wohnung am Kaiserdamm. Dass es hier so finster ist, liegt aber nicht an Tante Edith. Tante Traute hat im Krieg schlimme Sachen erlebt, ist Morphinistin und macht die Vorhänge nicht auf. Von den alten Geschichten ahnt Michael noch nichts. Für ihn gehört die Finsternis zu dem Geheimnis „Tante Edith“. Sie arbeitet in diesen Jahren für die CIA in Berlin als Dolmetscherin.

Es gibt noch mehr Geheimnisse. Michaels Vater, Ediths Bruder, trägt ein großes Pflaster auf dem Unterarm. Was für eine Wunde verbirgt er da? Und was will die Mutter ihrem Sohn sagen, als sie ihn mal beiseite zieht: „Du musst eins wissen. Dein Vater ist nicht arisch.“

Über die alten Dinge wird bei Michael zu Hause nie gesprochen. Von Tante Edith erfährt er, viel später, dies: Sie und ihr Bruder, Michaels Vater, entstammen einem reichen Haus, Juweliere, Geschäft in der Friedrichstraße, Villa in Westend, Chauffeur und Kindermädchen. Doch die Familie war nicht nur reich und deutsch, sie war auch jüdisch. Edith, die große Tochter, entkam den Nazis. Ob es Fluchtgedanken waren, die sie mit 24 Jahren, 1936 nach Monte Carlo trieben oder Abenteuerlust, ist nicht ganz klar. Auf jeden Fall war es ihr Glück. Sie entkam der Hölle, in der ihr Vater umkam wie viele andere Verwandte und in der man ihrem Bruder eine Zahl auf den Unterarm tätowierte. Dort muss er Dinge erlebt haben, so unaussprechlich, dass es unmöglich war, ihn danach zu fragen. Er verbarg sie wie die Zahl auf seinem Arm.

Edith in Monte Carlo lernte Charles kennen, Charles Susini. Sie war mit genug Geld an die Côte d’Azur gekommen, um ein selbstständiges Leben zu führen, eins mit eigenem Geschäft. In der großen Spielbank betrieb sie eine Boutique. Da war es nicht schlimm, dass Charles kein Geschäft betrieb, dass er, so jedenfalls erzählte sie es später, gar nicht arbeitete. Er war sehr schön und ein Mann von Welt. Außerdem teilte er Ediths Sympathie für Hunde.

Auch seine Sympathie für Frauen war sehr groß. Noch am Hochzeitsabend küsste er eine andere, und Edith sah das. Sie war aber nicht die Frau, die man so etwas sehen lassen sollte. Zu Hause, als sie ihn wieder ganz für sich hatte, rammte sie ein Messer in den Küchentisch und sagte, damit ihr Gemahl die Geste auch verstand: „Beim nächsten Mal bist du’s.“

So hat sie es ihrem Neffen berichtet. Ob die Drohung wirkte, und wenn ja, wie lange, hat sie nicht erzählt. Sie war kein Mensch, der den unschönen Dingen des Lebens großen Raum ließ.

Dass sie mit der Harley Davidson am Mittelmeer entlangfuhr, erzählte sie, und dass sie einen Sohn bekam, Claude. Und außerdem erzählte sie von ihrer Gabe, die sie in der feinen Gesellschaft von Monte Carlo zur gefragten Gesprächspartnerin machte: Sie sah Dinge, die andere nicht sehen, und sprach mit Wesen, die andere für Hirngespinste halten. War jemand skeptisch, nahm sie’s locker: „Den Geistern und Feen ist es egal, wer an sie glaubt, die sind sowieso da!“ Pragmatisch war auch ihr Verhältnis zur Religion. Sie war zum Katholizismus konvertiert, weil ihr schöner Mann ein Katholik war. Vielleicht hat ihr das das Leben gerettet, denn im September 1943 besetzte die deutsche Wehrmacht das Fürstentum Monaco. Ab jetzt waren auch hier die Juden nicht mehr sicher.

Über die fünfziger Jahre hat Edith Susini ihrem Neffen nicht viel erzählt. Es war keine gute Zeit. Sie hat am Ende in Paris gelebt, weit weg von Ehemann und Sohn. Über den Abschied von den beiden und von Monte Carlo hat sie nie ein Wort verloren. Ihr kleiner Bruder, Michaels Vater, hat sie schließlich nach Berlin geholt, 1958 war das, so viel ist sicher.

Aus Paris brachte sie ihren zweiten Sohn mit, Michel. Wer dessen Vater war, behielt sie für sich. Überhaupt ist Michels Geschichte eine traurige. Er war talentiert und wurde Gitarrist. Und er verfiel den Drogen, nahm Heroin, bestahl die Mutter. Doch sie hielt zu ihm, egal was kam. Und sie verlor ihn. Vorm Heroin floh er in andere tödliche Regionen. Die Franzosen testeten in jenen Jahren ihre Atombomben. Fremdenlegionäre schickten sie weit nach vorn, um die Strahlenwirkung zu erkunden. Michel war einer von ihnen, und er starb sehr schnell.

Das war und blieb ihr großer Schmerz. Als ihr der französische Staat Geld anbot, eine „Entschädigung“, konnte sie das nur als Hohn begreifen. Was ihr blieb und was ihr half, war die Musik, der Blues vor allem, der den Schmerz kennt und das Leben feiert. So war sie ja: das Schlimmste hatte sie erlebt, und ließ doch jeden spüren, dass sie das Dasein liebte.

Sie besuchte Konzerte, in denen sie auffiel, weil sie doppelt so alt war wie der Rest des Publikums. Im Tempodrom besaß sie einen Ehrenplatz.

Und in den Achtzigern wurde sie selbst so etwas wie ein Star der West-Berliner Szene. Es war schick, Edith Susini in ihrem scheußlichen SechzigerJahre-Wohnhaus zu besuchen und sie um Rat und Heilung zu ersuchen. Sie war die freundliche ältere Dame, die schon einiges erlebt hatte und ihre guten Kontakte in die Welt der Feen und Geister sorgsam pflegte. Sie legte die Hand auf schmerzende Stellen, schwang das Pendel und gab die Auffassung des Jenseits zu diesem und zu jenem weiter. Rio Reiser kam, der Sänger von Ton-Steine-Scherben, Funky, der Trommler, die Humpe-Schwestern, Schauspieler, Sanyassins. Und niemand nahm Anstoß daran, dass es bei Edith Susini überhaupt nicht jenseitig zuging, kein Geraune, kein Papagei, keine schweren Vorhänge. Es roch ein bisschen nach Hund, ein Wellensittich zwitscherte, die Couch war mit praktischem Kunstleder bezogen, und den Couchtisch konnte man hoch- und runterkurbeln.

Wann sie zum Buddhismus kam, weiß der Neffe nicht zu sagen, sie las irgendwann das Tibetische Totenbuch. Sie war eine Frau, die das Schicksal, so hart und so freundlich es ihr begegnete, mit einer großen Gelassenheit hinnahm. Die Religion aus dem Osten, in ihrer undogmatischsten Form natürlich, passte gut zu ihr.

Als sie an Krebs erkrankte, organisierte Michael die Pflege. So konnte sie zu Hause bleiben, betreut von drei Thais, ihren geliebten Siamesen. Deren sanfte Art genoss sie sehr: „Schon, wie die die Tür aufmachen!“

Einmal, als es ihr sehr schlecht ging und sie immer wieder wegdämmerte, schien sie auf einmal etwas ganz Grundlegendes erkannt zu haben. Ihr Neffe saß neben ihr am Bett, da griff sie seinen Unterarm und raunte: „Ich hab’s! Jetzt weiß ich es!“ Dann machte sie eine lange Pause und ging tief in sich.

„Was denn? Was weißt du jetzt?“

Sie riss die Augen auf und rief mit bedeutungsschwerer Stimme die Worte, in denen die gesamte Weisheit, der Urgrund allen Seins enthalten schien: „Wattu! Wattu!“ Und schloss die Augen und schwieg wieder.

Michael war noch zu keinem Schluss gekommen, ob seine Tante nun weise oder wahnsinnig geworden sei, als sie anfing, laut zu lachen. Über sich selbst, die Weisheit und den Wahnsinn.

Diese Frau, Jüdin, Katholikin, Feen- Kundige, Buddhistin und Blues-Liebhaberin, befand ihr Neffe, verdiente einen vollständigen Abschied. Dazu gehörte folgendes: Die Verbrennung und die einwöchige Trauerzeremonie in einem buddhistischen Kloster, die katholische Aussegnung in der Friedhofskirche, wo anschließend die Ton-Steine-Scherben-Band aufspielte, ohne Rio Reiser, weil er der Tante Edith längst vorausgegangen war, am Grab der Rabbi, der das Kaddisch sprach, und noch einmal, nicht abgesprochen, der Katholik mit einem Segen, weil er fand, dass ihm das letzte Wort gebührte. Ganz zum Schluss aber warf ein lächelnder Buddhistenmönch einen Mantel in leuchtendem Orange über das Grab von Edith Susini, der verrückten Tante, die längst nicht so verrückt war wie die Zeiten, in denen sie gelebt hat. David Ensikat

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