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Berlin: Edwin Rainer (Geb. 1957)

Er hätte kapitulieren und zugeben müssen, dass die Sucht stärker war als er.

Das eine Leben: 25 Jahre Alkoholsucht. Wann genau es begonnen hatte, wusste er nicht mehr. Er war hineingeraten, das Trinken mit Kumpels, das Trinken allein, das Trinken gegen die Angst vor dem Versagen, tausend Gründe, tausend Vorwände. Er hätte irgendwann kapitulieren und zugeben müssen, dass die Sucht stärker war als er. Aber dafür fühlte er sich noch zu stark. Obwohl die Niederlagen sich mehrten. Er verlor seinen Führerschein, drei Promille auf der Fahrt zur Arbeit. Er verlor seinen Job. Geriet immer häufiger in Todesgefahr, wurde nicht nur einmal mit mehr als fünf Promille ins Krankenhaus eingeliefert. Und schaffte doch immer wieder den Entzug. Ohne den Rückfall verhindern zu können. Er hat immer geglaubt, es dennoch irgendwann zu schaffen.

Aber er war müde geworden. Das, was in den letzten dreizehn Tagen geschah, hatte er schon zu oft erlebt. Er saß in seiner Wohnung, die sorgfältig aufgeräumt war wie immer, und trank sich zu Tode.

Er war schon oft gestürzt, hatte Hilfe gesucht, diesmal weigerte er sich, ins Krankenhaus zu gehen.

Zeitweise kam er die vier Stockwerke nicht mehr runter, um Nachschub zu holen, kalter Entzug, der Kreislaufkollaps drohte. Er ließ keinen Arzt zu sich. Am Sonntag spuckte er Blut. Er kannte das Vorzeichen, er wusste, er würde verbluten, und schlief ein.

Das andere Leben: eine behütete Kindheit in der bayerischen Kleinstadt. Einzelkind, umsorgt, verwöhnt. Ein bildhübscher Kerl, rasanter Skifahrer, leidenschaftlicher Bassist, dem Freundschaft über alles ging. 24 Jahre war er Ausbildungs- und Bereitschaftsleiter bei der Bergwacht, er kannte jeden Hügel seiner Heimat, ging wandern in Lederhosen.

Er war auf sein Äußeres bedacht, ohne zu gockeln, man musste ihn einfach mögen, Männer wie Frauen.

Er ging zum Bund, verpflichtete sich für zwei Jahre, danach in den Polizeidienst. Er wäre gern Musiker geworden, aber das traute er sich dann doch nicht zu, mit dem Blues sein Geld zu verdienen.

Sein Arbeitsfeld: „verdachtsunabhängige Personenkontrollen“, es galt illegale Einwanderer an der Grenze und in den vom Balkan kommenden Zügen aufzuspüren.

Wer kann da einen Sliwowitz ausschlagen, denn es geht ans Herz, Menschen abzuweisen, die einfach nur ein besseres Leben wollen.

Er hatte längst seine erste Liebe geheiratet, eine bayerische Hochzeit in Trachten, mit Hochzeitslader und allem, was sich gehört. Er baute der Familie ein Haus, sie bekamen zwei Kinder, auf die er unendlich stolz war. Kaum waren sie groß, erkrankte die Frau an Krebs; die Ärzte beruhigten sie, sie würde eher Edwin beerdigen, als er sie. Es kam anders.

Während der Pflege seiner Frau war er eineinhalb Jahre abstinent. Nach ihrem Tod begann er zu saufen wie nie zuvor.

In fünf Jahren vier Entwöhnungstherapien. Er bekam eine gesetzliche Betreuerin, die sich um ihn sorgte, seine Kinder standen zu ihm – er geriet nie in Gefahr, vollends abzustürzen.

Und eine neue Liebe trat in sein Leben, gänzlich unerwartet.

Er floh vor dem bayerischen Idyll und zog zu ihr nach Berlin. Er begann zu malen, fotografierte, besessen geradezu, die Welt, die ihm so oft abhanden kam. Er wollte die glücklichsten Momente bewahren. „Denn das hab ich nicht verdient, dich zu treffen.“

Er fotografierte jeden Kuchen, den er für sie gebacken hatte. Er, der die Berge liebte, fuhr ihr zu Liebe ans Meer.

Er machte große Augen, als sie ihm die Schiffe im Hafen ihrer Heimatstadt Kiel zeigte. Und als sie nach Ägypten wollte, einfach nur mal nichts tun und Sonne tanken, verzichtete er auf Wandern und Inlineskaten und Radfahren und lernte Faulenzen.

Er wollte heiraten, ein Jahr trocken sein, das war ihre Bedingung. Er hat es nicht gepackt, so groß das Durchhaltevermögen auf beiden Seiten war, so unverbrüchlich ihre Gefühle ihm gegenüber blieben.

Edwin Rainer konnte viele Menschen mit seiner Liebe halten. Nur sich selbst nicht. Gregor Eisenhauer

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