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Berlin: Ehemalige Stasi-Zentrale: Lektion in Sache Demokratie

"Wählt national" prangt mit schwarzer Farbe an der Wand. Daneben hat jemand mit weißer Kreide "PDS" gekritzelt.

"Wählt national" prangt mit schwarzer Farbe an der Wand. Daneben hat jemand mit weißer Kreide "PDS" gekritzelt. An den Wohnhäusern ringsum sind noch Einschusslöcher des Zweiten Weltkriegs zu sehen. Viel Vergangenheit hat die Lichtenberger Ruschestraße zu bieten. Und viel graue Farbe.

Menschen mit Einkaufsbeuteln hasten über holprige Bürgersteige. Alle streben in einen großen alten Bau, der sich zwischen die Wohnhäuser zwängt. "Da drüben sind die Ärzte", weiß ein 21-jähriger Mann, der auf der anderen Straßenseite wohnt. Vor einem Jahr ist er aus Marzahn hierher gezogen, wegen der billigen Wohnungen. Wenn er krank ist, geht er hinüber ins Ärztezentrum. "Da werde ich gut behandelt", sagt er. "Das andere ist egal und vorbei." Das andere: Das ist die Vergangenheit, die auf dem Viertel lastet. Früher war hier das Hauptquartier der DDR-Staatssicherheit, 36 421 hauptamtliche Mitarbeiter, verteilt auf 48 Häuser. Heute sitzen Ärzte und Möbelverkäufer in den Bauten, um die Ecke ist das Arbeitsamt.

"Alles Mischpoke", spottet Jörg Drieselmann und dreht sich eine Zigarette. Er blickt auf den Stasi-Hof. Hinter angegrauten Blümchen-Gardinen beobachtet er die Patienten, die täglich ins Ärztehaus strömen. Um sein Gebäude machen die meisten Besucher einen Bogen, denn das ist Haus 1, Erich Mielkes einstiges Reich. Von hier aus dirigierte der Stasi-Boss 100 000 hauptamtliche und doppelt so viele inoffizielle Mitarbeiter. Doch vor elf Jahren, am 15. Januar 1990, verjagten aufgebrachte Bürger die Spitzel.

Seit zehn Jahren ist Haus 1 ein Museum, gehütet vom Aufarbeitungsverein "Astak". Im dritten Stock befindet sich Mielkes "Individualbereich", mit Lenin-Skulptur auf dem Schreibtisch und Badewanne im Hinterzimmer. In den Ecken stehen überdimensionale Telefone mit farbigen Leuchtschaltern: "Frei Sprechen", "Laut hören", "Mithören". Auf den Wählscheiben ist noch die Notruf-Nummer der Volkspolizei vermerkt.

"Das ist hier kein Gruselkabinett", sagt Museumsdirektor Drieselmann, "sondern eine Lektion in Sachen Demokratie."

In der Würstchenbude vor Haus 1 steht Dieter Wallis, 66 Jahre. Er verkauft Pferdefleisch - "in BSE-Zeiten ein Renner" - und sagt, dass ihm die Vergangenheit egal sei. Sein Gartennachbar habe ihn früher immer beschnüffelt, berichtet der Biesdorfer. Seine Stasi-Akte hat Wallis nicht gelesen, Mielkes Amtszimmer interessiert ihn nicht: "Da sind nur normale Möbel drin." Ein 70-jähriger Rentner, der an der Bude steht, rümpft die Nase über den "Bus-Tourismus" in die Gedenkstätte. Er gibt an, zu DDR-Zeiten in einem Ministerium gearbeitet zu haben. Warum er hier ist? "Meine Frau ist beim Arzt."

Immer wieder die Ärzte. Sie bilden den Mittelpunkt des Komplexes, in dem auch die Sparda-Bank und das Finanzamt residieren. Bis zu 1000 Patienten zählt Geschäftsführer Wolfgang Otto an Spitzentagen im Ärztehaus. In frisch renovierten Praxen bieten 32 Mediziner eine Rundum-Versorgung, es gibt einen Friseur und eine Sauna. Die Flure sind weiß gestrichen, nur in ein paar Ecken stehen alte Garderobenständer. Im nächsten Jahr soll die Fassade neu verputzt werden. "Der Rest ist den Patienten egal", sagt Otto.

Spurensuche in Haus 15: Der schmale, hohe Plattenbau ist ein Bauwerk des MfS, sorgfältig geplant, um das Gelände abzuschotten (siehe unten). Hier arbeitete die Hauptverwaltung Aufklärung von Markus Wolf. Heute leuchtet vor dem Eingang das Logo der Bahn AG.

Spurensuche im Haus 22, mitten auf dem Hof. Hier ging Mielke früher essen. "Feldherrenhügel" hieß der Bau, weil nur Chefs Zutritt hatten. Damit der Genosse Minister zufrieden war, hatte die Küche konkrete Anweisungen zu beachten. Auf einem linierten Blatt Papier war die Anordnung von Mielkes Frühstück exakt aufgezeichnet. Links ein Tablett mit Kaffee und Milchkännchen, rechts eine weiße Stoffserviette. Das Ei, "4 1/2 Minuten kochen, vorher anpicken", kam auf den Teller. Heute stehen unter den alten Leuchtern moderne Designermöbel. "Kusch und Co." heißt die Firma aus dem Sauerland, die hier Bürosessel feilbietet.

Und die Ärzte? Haus 17, 19 und 20 gehören der Medizin. Früher war hier der "Zentrale Medizinische Dienst" des MfS. Die Ärzte hatten die Aufgabe, das Spitzel-Personal gesund zu halten. Beispiel: Marianne Seifert, Jahrgang 1937, Handwerkertochter aus Thüringen. Die Psychologin kam 1971 in die MfS-Zentrale und stieg bis 1989 zum Oberstleutnant auf. Sie kümmerte sich unter anderem um die Alkoholprobleme der Stasi-Leute. In einer ersten Beurteilung lobte das MfS die Ärztin für ihren Einsatz, "die Ziele und Aufgaben zur politisch-ideologischen Erziehung der Mitglieder durchzusetzen".

Heute betreibt Marianne Seifert im Ärztehaus eine Gemeinschaftspraxis für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie. Zu ihrer Vergangenheit will sie nichts sagen. Sie weiß nur: "Ich werde hier noch gebraucht."

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