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Suizid ist nicht die Lösung. Das Projekt U25 berät Jugendliche, die nicht mehr weiter wissen.

© dpa

Ehrenamt in Berlin: Selbstmordgedanken bei Jugendlichen: Was tun?

Hunderte Jugendliche nehmen sich in Deutschland jedes Jahr das Leben. Wie merkt man, dass es ernst wird – und was dann? Das Projekt U25 hilft jungen Menschen in Krisenmomenten.

Das letzte Mal hat sie ihren Bruder Mathias S.* durch Zufall in der U-Bahn getroffen. Er wirkte abweisend und musste schnell weiter. Drei Wochen später war er tot. Dass er Selbstmordgedanken hatte, davon merkte Nadine S. nichts. „Ich wusste, dass er in einer Lebenskrise stecke, sich unsicher war, mit dem was er tat“, sagt sie. Er hatte Versagensängste, Probleme im Studium und sei immer wieder schlecht drauf gewesen. Für einen 23-Jährigen auf der Suche nach dem richtigen Ziel im Leben keine ungewöhnlichen Probleme, dachte sich Nadine. Immerhin ging er trotzdem weiter auf Partys und hatte einen großen Freundeskreis. Wie schlecht es ihm hinter der Fassade ging, erfuhr sie erst, nachdem es zu spät war.

Mathias S. ist einer von 600 jungen Menschen unter 25 Jahren, die sich jedes Jahr in Deutschland das Leben nehmen. Neben Verkehrsunfällen ist Selbstmord eine der häufigsten Todesursachen in dieser Altersgruppe. Insgesamt sterben deutschlandweit 10.000 Menschen pro Jahr an Suizid. Redet man über das Thema, merkt man erstaunt, wie viele Menschen damit Berührungspunkte haben. Viele haben erfahren, wie schwierig es ist, rechtzeitig an junge Menschen heran zu kommen, ihnen Hilfe anzubieten.

In Berlin beantworten 70 „Peers“ die Anfragen der Hilfesuchenden

Jugendliche würden oft keine offiziellen Beratungsstellen aufsuchen, sagt Christina Obermüller vom Caritasverband. Daher hat die Caritas 2013 das Projekt U25 ins Leben gerufen, eine E-Mail-Beratung für suizidgefährdete Jugendliche zwischen 13 und 25 Jahren. Ursprünglich gegründet wurde es 2002 vom Arbeitskreis Leben in Freiburg. „Bei den E-Mail-Kontakten ist die Hemmschwelle niedrig, da die Hilfesuchenden anonym bleiben“, sagt Projektleiterin Obermüller. Sie können sich einen Chatnamen geben und die IP-Adressen werden nicht zurückverfolgt. Deutschlandweit hat das Projekt 126 junge ehrenamtliche Mitarbeiter. In Berlin beantworten 70 „Peers“, wie die Berater sich nennen, die Anfragen der Hilfesuchenden.

„Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Das macht alles keinen Sinn mehr“. Diese Sätze bekommt die 20-jährige Elena regelmäßig zu lesen. Seit vier Jahren ist sie als ehrenamtlichen Peer-Beraterin, sie macht auch ein Praktikum bei der Caritas und möchte später Soziale Arbeit studieren. Wie alle anderen Mitarbeiter bei U25 gibt sie nach außen nur ihren Vornamen bekannt, um nicht von Klienten erkannt zu werden. Dass die Mitarbeiter genauso alt wie die Hilfesuchenden sind, ist das besondere an der Onlineberatung. „Wir können uns in ihre Probleme hineinversetzten“, sagt Elena. Das sei etwas anderes, als mit einem 20 Jahre älteren Arzt zu sprechen. Für ihre ehrenamtliche Tätigkeit nimmt sie sich jede Woche ein paar Stunden Zeit. Die E-Mails, die sie über die Internetseite u25-berlin.de erreichen, beantwortet sie am Schreibtisch zu Hause. Derzeit hat sie regelmäßigen Kontakt zu zwei bis vier Jugendlichen. Die Anzahl wechselt stetig. „Jeden Monat kommen etwa drei neue Anfragen hinzu“, sagt sie. Manchmal bleibt es bei einer Antwort, manchmal hält sie über Monate mit einer Person Kontakt. In ganz Deutschland nahmen im Jahr 2014 insgesamt 867 junge Menschen den Kontakt zu den Onlineberatern auf -alleine in Berlin gab es 70 Hilfesuchende.

Zukunftssorgen seien ein häufiges Thema

Manche jungen Männer und Frauen fühlen sich isoliert und einsam, werden in der Schule gemobbt oder wissen nicht, welchen Beruf sie ergreifen sollen. „Auf den Leuten lastet viel Druck“, meint Elena. Zukunftssorgen seien ein häufiges Thema. Einige der Ratsuchenden haben noch schwerere Lasten zu tragen – wie sexuellen Missbrauch oder andere traumatische Erlebnisse. Elena schreibt dann über Auswege aus Notlagen. Wenn sie merkt, dass der Betroffene offenbar an einer Depression leidet, Essstörungen oder eine psychische Erkrankung hat, leitet sie Adressen von Beratungsstellen weiter. Um den richtigen Ton bei ihren Klienten zu treffen, hat sie wie alle anderen ehrenamtlichen Berater des Projektes eine mehrmonatige Schulung absolviert.

Die meisten Anfragen, die bei der E-Mail-Beratung eingehen, kommen von jungen Mädchen. „Männer sind leider weniger kommunikativ“, sagt Obermüller. Vielleicht einer der Gründe, weshalb 70 Prozent der Suizide von Männern begangen werden. Frauen wollen hingegen mit einem Suizidversuch oft ein Alarmsignal senden. „Rund 80 Prozent der Selbsttötungen werden vorher angekündigt“, sagt die Caritas-Mitarbeiterin. Häufig werden Signale nicht ernst genug genommen. Und wer nachfragt, müsse auch damit rechnen, eine ehrliche Antwort zu bekommen. Danach müsse eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgen, vor der viele Leute zurück scheuen. Ein blöder Spruch, wie „und morgen scheint die Sonne wieder“, helfe niemanden weiter.

Ihr Bruder hatte eine Depression

Nadine M. ist sich sicher, dass eine gute medizinische Versorgung ihrem Bruder das Leben hätte retten können. Nach allem, was sie und ihre Familie im Nachhinein herausfinden konnten, litt ihr Bruder unter einer Depression. Schlaflosigkeit, Konzentrationsschwächen, und er sagte immer wieder Verabredungen mit ihr immer ab. Alles Symptome, die sie erst nach seinem Tod besser zu deuten wusste. Dennoch hält sie es für zu einfach, den Selbstmord ihres Bruders oder den vieler anderer junger Menschen alleine mit der Diagnose einer Krankheit zu erklären.“ Wenn Suizid eine der häufigsten Todesursachen bei jungen Menschen ist, dann hat das auch etwas mit der Gesellschaft zu tun“, sagt sie. Ihr Bruder habe den Druck gespürt, dass aus ihm etwas werden muss. „Heute muss jeder erfolgreich sein, viel Geld verdienen, um nicht als Versager da zustehen“, sagt sie. Ein Leistungsanspruch, der mit einer Depression noch schwieriger zu erfüllen ist. Jeder Mensch habe einen Überlebensinstinkt, meint Obermüller. „Die Jugendlichen wollen nicht tot sein. Sie wollen aus ihrer jetzigen Situation raus und sehen den Suizid als einzigen Ausweg“. Da psychische Krankheiten ein immer noch stark besetztes Thema seien, schaffe es kaum jemand, ohne Scham darüber zu sprechen und sich Hilfe zu holen.

Elena machen die vielen positiven Verläufe ihrer Beratungs-„Brieffreundschaften“ Mut: „Danke, dass du da bist und mir geholfen hast“, liest sie da oft.

* Name von der Redaktion geändert

Auf der Seite www.u25-berlin.de befindet sich rechts ein „Help-Mail-Button“, von dem aus anonyme Nachrichten verschickt werden können. Innerhalb von 48 Stunden erreicht den Hilfesuchenden eine erste Antwort. Die Ehrenamtlichen kümmern sich so lange um ihre E-Mail-Kontakte, solange ihre Hilfe gesucht wird. Ebenso gratis und anonym berät der Verein www.jugendnotmail.de. Zudem gibt es für Angehörige und Betroffene, die anonym Hilfe suchen www.Neuhland.de. Es berät auch www.telefonseelsorge-berlin.de.

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