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Unser Mann vor Ort. Innensenator Ehrhart Körting wird auch an diesem 1. Mai wieder mit Polizeiführern sprechen und im Lagezentrum vorbeischauen.

© ddp

Ehrhart Körting und der 1. Mai: Der alljährliche politische Ausnahmezustand

Alle Jahre wieder. Ehrhart Körting erlebt seinen zehnten 1. Mai als Innensenator Berlins. Die Hoffnung, dass sich das Randale-Ritual irgendwann erledigt, gibt er nicht auf.

Nein, von Randale-Routine keine Spur. Auch nicht bei der zehnten Wiederholung. „Es gibt jedes Mal eine gewisse Anspannung“, gibt Ehrhart Körting zu. Der Innensenator weiß, dass es wieder eine lange Nacht werden wird, und unberechenbar zudem. Kommt es ganz schlimm, dann werden alle Finger auf ihn weisen, dann wird sein Amt zum Schleudersitz, dann wird er die politische Verantwortung übernehmen müssen. Eine üble Vorstellung, so wenige Monate vor der Wahl. Der Sozialdemokrat ist sich bewusst, „wie wichtig es für die Berliner und für das Image der Stadt nach außen ist, dass diese Tage gut bewältigt werden“.

Körting ist auch dieses Jahr in der Walpurgisnacht gependelt, zwischen Mauerpark in Prenzlauer Berg und dem Wismarplatz in Friedrichshain. Und am 1. Mai wird er wieder in Kreuzberg unterwegs sein, zwischen „Myfest“ und der „Revolutionären 1. Mai-Demonstration“. Kein Berliner Innensenator hat so viele Einsätze am 1. Mai erlebt wie der frühere Verfassungsrichter Körting – nicht der ruppige Wilhelm Kewenig oder Dieter Heckelmann, Ex-General Jörg Schönbohm oder der Geheimdienstexperte Eckardt Werthebach. Keiner seiner CDU-Vorgänger schaffte es, die Maikrawalle in den Griff zu bekommen. Niemand hat sich aber auch so häufig wie Körting rechtfertigen müssen im Abgeordnetenhaus für brennende Barrikaden, angeblich verfehlte Polizeitaktik, unzureichende Ausrüstung, zu wenig Einsatzkräfte oder zu viele verletzte Beamte. Immer wieder in diesen zehn Jahren ist er nächtens in der Oranienstraße durch Scherbenwüsten aus zersplitterten Flaschen gelaufen und hat blindwütige Zerstörung beobachtet.

Erste Randale und Festnahmen schon vor der Walpurgisnacht, Steinwürfe gegen Banken, Farbbeutel gegen Jobcenter und angezündete Autos in den vergangenen Tagen: Trotzdem findet Körting die geringe Mobilisierung in der autonomen Szene bemerkenswert und auch das Ausbleiben gewalttätiger Proteste gegen das kürzliche Nato-Treffen in Berlin ermutigend. Das zehnte Mal wird voraussichtlich sein letzter 1.-Mai-Einsatz sein, weil der schmale, jünger wirkende Mann mit 68 Jahren schon jetzt der Senior in Wowereits Senat ist. Er schweigt zur Frage, ob er weitermachen will, falls die SPD die Wahl im September gewinnt; man kann daraus schließen, dass er nicht abgeneigt wäre. Beim ersten Mal, 2002, sei er besonders nervös gewesen, gibt der Senator zu. Die Öffentlichkeit und die Opposition schaute sehr genau hin, wie die noch amtsfrische rot-rote Koalition die traditionelle Krawallnacht meistern würde. Im Jahr zuvor war es unter CDU-Innensenator Werthebach zu den schwersten Ausschreitungen seit langem gekommen, obwohl dieser auf ganz harte Linie setzte und die krawallträchtige „Revolutionäre 1. Mai-Demonstration“ kurzerhand verbot.

Und nun verlegte Rot-Rot 2002 sich unter heftigstem Beschuss der CDU auf Deeskalation und zurückhaltenden Polizeieinsatz. Das war nicht ohne Risiko. Schließlich startete auch die erste rot-grüne Berliner Koalition 1989 mit besonders heftigen Straßenschlachten. Damals war das Deeskalationskonzept von Körtings Vorgänger Erich Pätzold durch unwillige Polizeiführer unterlaufen worden. Der 1. Mai wurde dadurch zusätzlich zum politischen Scherbenhaufen.

„Befürchtungen, dass jemand aus der Polizei der Politik schaden will, habe ich nie gehabt“, sagt der Jurist rückblickend. Dass die Koalition aus SPD und Linke erhebliche Probleme hatte mit dem damaligen Polizeipräsident Hagen Saberschinsky, der sich mehr aufs Draufhauen als Deeskalieren verstand, erwähnt Körting nicht. Doch 2002 ging die „Strategie der ausgestreckten Hand“ auf. Selten zuvor blieb es so friedlich rund um die Oranienstraße. Als es am Abend doch zu Scharmützeln kam, agierte Körting zunehmend nervöser im Lagezentrum der Polizei, erinnern sich Beobachter. Mit Dieter Glietsch, seit 2002 Polizeipräsident, hat Körting jemand an seiner Seite, der strategisch und politisch ähnlich tickt. Das Konzept der Deeskalation hat über die Jahre getragen. Dass sich die Kreuzberger mit dem „Myfest“ selber gegen die rituelle Zerstörung ihres Kiezes durch Abenteuerkids, Alk-Rambos und Gewalttouristen zu wehren begannen, hat die Entwicklung unterstützt. Durch intensive Ansprache islamischer Gemeinden und migrantischer Gruppen hat Körting es auch vermocht, viele der auf Krawall-Erlebnis gepolten türkischen Jugendlichen wieder von der Straße zu holen. Auch an diesem 1. Mai trifft sich der Senator am Mittag demonstrativ zum „Schulterschluss“ mit Vertretern von Migrantenverbänden. Danach wird er über das Anwohnerfest schlendern und sich mit Parteifreunden zum traditionellen Bier in einem Lokal in der Oranienstraße treffen. Und hoffen, dass es auch friedlich bleibt, wenn die Sonne untergegangen ist.

„Ich habe die Hoffnung, dass sich das irgendwann erledigt“, sagt Körting über die 1987 begründete, unselige Randale-Tradition. Wann? Schulterzucken. „Ich bin nicht blauäugig. Ich weiß, dass es ein Potenzial von Leuten gibt, die Gewalt suchen.“ Dass es Rückschläge gibt, hat er erfahren müssen. „Die größte Enttäuschung war 2009“, gesteht der Senator ein, als es nach friedlicheren Jahren unversehens wieder eine Gewaltorgie gab. 479 Polizisten wurden verletzt, die Opposition forderte Körtings Rücktritt. „Lieber eine Vorsichtsmaßnahme mehr als eine zu wenig“, das hat er von 2009 gelernt. Im vergangenen Jahr waren fast 7500 Beamte auf den Straßen, weil zugleich die NPD demonstrierte. Dieses Jahr sollen 6000 Polizisten reichen. Im Hintergrund bleiben, nicht mit voller Kampfmontur provozierend wirken, aber sofort zugreifen, wenn es brennt – das Konzept soll auch in diesem Jahr aufgehen.

Auch Christian Ströbele gesteht Körting zu, er habe „es besser gemacht als seine Vorgänger“, obwohl er zuweilen „starke Worte gebraucht, die nicht sein müssen“. Der grüne Bundestagsabgeordnete meint den umstrittenen Vergleich von Steinewerfern mit Vergewaltigern, der Körting 2009 Ärger einbrachte. „Die Polizei hat in den vergangenen Jahren viel dazugelernt“, sagt Ströbele, der, wie immer, am 1. Mai mit seinem Rad unter den Feiernden und Demonstranten zu finden sein wird, zur Deeskalationsstrategie. „Der Geist, den die Führung ausstrahlt, wirkt sich positiv aus.“ In den ersten Jahren, als Körtings Gesicht noch unbekannt war, hat er die Aufmärsche am Rand begleitet und in der Walpurgisnacht neben den Punks auf dem „Boxi“ gestanden. Das hat er gelassen. Vor zwei Jahren zwang ihn etwa eine Gruppe Schwarzgekleideter, die ihn in einem Cafe erkannten, zum Rückzug.

Der Gewalt Einhalt zu gebieten mit den Barrikaden des Rechtsstaats und notfalls auch harten Strafen gegen Steinewerfer, so versteht er sein Amt. Dass mit dem Anwohnerfest in Kreuzberg „den Extremisten der traditionelle Ort der Randale weggenommen worden ist, ist ein ermutigender Faktor“, begründet Körting seine Hoffnung auf einen irgendwann gänzlich friedlichen 1. Mai. Der Innenpolitiker, früher ein klassischer SPD-Linker, der sich mit seinen klaren Ansagen auch bei konservativen Wählern Respekt erworben hat, formuliert noch eine politische Erwartung: Friedlicher könnte es auch werden, wenn sich bei „intelligenten Linksextremisten der Gedanke durchsetzt, dass man sich wieder auf politische Themen konzentrieren muss“. Wenn die radikale Linke am 1. Mai „für politische Forderungen mobilisiert und nicht zu Gewalt aufruft, dann verschwinden auch die Gewaltmitläufer.“

Dann würde Körting sich bestätigt fühlen, dass nicht eine aufgerüstete Polizei, sondern „reden – so lange wie möglich“ das probate Mittel zur Befriedung ist. „Demos, auch lautstarke, gehören zur Demokratie, Gewalt jedoch nicht.“ Am Sonntagabend wird er in Kreuzberg mit Polizeiführern sprechen und später ins Lagezentrum fahren. Um Mitternacht ist Körting dann im Polizeipräsidium. Um zu gratulieren: zum 64. Geburtstag von Polizeipräsident Glietsch – und zu einem hoffentlich stillen Abend.

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