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Japans Schindler. Chiune Sugihara, der zur Orthodoxie konvertierte Judenretter: als Ikonen-Heiliger, gemalt von Pavlo Sergeyevitch.

© CCO (Quelle Wikipedia)

Ein Berliner Verein und die Diskussion über Helden heute: Aufrecht zwischen den Fronten

Wie kommt man dazu, Verfolgten und Benachteiligten auf anderen Kontinenten ebenso zu helfen wie Menschen in der eigenen Stadt? Die Raoul-Wallenberg-Loge lässt sich für ihr Engagement von zwei Vorbildern des 20. Jahrhunderts und deren dramatischen Biografien inspirieren.

„Wir sind da,“ sagt András Kain. „Wir spenden für den, der Hilfe braucht. Und wir stehen für die Sache Israels ein.“

Das Gespräch findet im Seniorenklub der Jüdischen Gemeinde an der Fasanenstraße statt. Die Raoul-Wallenberg-Loge, deren Präsident András Kain seit 15 Jahren ist, hat selbst keine Räume. „Wir sind 84 Leute, eine kleine Schar, treten als Loge nicht öffentlich auf,“ sagt Kain. Man gehe aber zu jeder Demo gegen Antisemitismus - auch wenn ein Leben als Jude immer noch am sichersten in Deutschland sei. Das hätten sie 2013, auf ihrer Logenreise nach Marseille, so empfunden, beim Besuch der unbewachten Synagoge: die gerade ein islamistischer Attentäter mit seiner Kalaschnikow aufsuchen wollte, als man ihn zufällig verhaftete.

Um in der Welt etwas positiv zu verändern, „tun wir im Mikrobereich, was wir können“, sagt der 68-Jährige. Der Einsatz zweier Juden-Retter, die seine Loge als Vorbilder hinstellt – die Diplomaten Raoul Wallenberg und Chiune Sugihara – müsse eigentlich jedem Mitglied ein Ansporn sein. Die Raoul-Wallenberg-Loge gehört zur weltweit größten jüdischen Hilfsorganisation B'nai B'rith (Söhne des Bundes), bei der eine halbe Million Menschen in 60 Ländern eingetragen sind.

1885 war Premiere in Schöneberg

Deutsche Juden in New York hatten die Organisation 1843 ins Leben gerufen, um ihre Bürgerrechte zu verteidigen, gegen Judenfeindschaft anzutreten und sich gemeinsam in der jüdischen Tradition der „Zedeka“ (= Gerechtigkeit) wohltätig zu engagieren. Mit dem Freimaurertum teilten sie nur den Logen-Begriff und Ideale der Aufklärung, geheimnisvolle Zeremonien spielen keine Rolle. 1885 wurde die erste von über 100 deutschen B'nai B'rith-Logen in Schöneberg gegründet, auch Frauenvereine schlossen sich an – bis zur Zwangsauflösung solcher Vereinigungen durch die Nationalsozialisten im Jahr 1938. Die Gründung der Raoul-Wallenberg-Loge 1979 war dann eine Initiative junger Männer, die für sich in den drei überalterten Berliner Nachkriegs-Logen keinen Platz sahen. „Wir waren mit der Uni fertig, hatten kleine Kinder, wollten nicht so gern mit den älteren Herrn.“

András Kain, Präsident der Raoul Wallenberg Loge Berlin.
András Kain, Präsident der Raoul Wallenberg Loge Berlin.

© Raoul Wallenberg Loge

Seitdem trifft man sich zu Vorträgen über Religion, Israel, Antisemitismus, zu Ausstellungsbesuchen. Mit 10 000 Euro jährlich werden regelmäßig zwei Projekte gefördert: das Kinderheim in Ness Ziona, Israel, und bedürftige Familien der Gemeinde. Weitere Mittel erhält „AMCHA“, die Organisation zur psychosozialen Unterstützung Shoah-Überlebender in Israel und in der Ukraine. Spontanaktionen helfen dem Gemeinde-Jugendzentrum oder mal einer Patientin mit Krankenkassen-Problemen. Über Abgaben an B'nai B'rith Europe, deren Brüsseler Zentrale 26 Logen-Länder vertritt, geht Geld an Tsunami-Opfer in Asien.

Auch Kains Mutter wurde gerettet

András Kain, der pensionierte Zahnarzt, gehört heute selbst zu den „älteren Herrn“. Als Gründungsmitglied motivierten ihn seinerzeit, bei der Suche nach einem würdigen Logenpatron, auch persönliche Gründe, für Wallenberg zu plädieren. Unter Tausenden von Juden, die dieser schwedische Gesandte 1944 /45 in Budapest vor der SS und den Pfeilkreuzler-Faschisten gerettet hatte, befand sich Kains Mutter mit zweien seiner Brüder. Sie überlebten zuletzt mit 70 000 Juden in einem Ghetto, dessen Vernichtung schon befohlen war. Die Rote Armee eroberte Budapest, Wallenberg wurde nach Moskau verschleppt, inhaftiert, verhört; von ihm fehlt seit 1947 jede sichere Spur. Der Familie Kains gelang 1966 die Flucht aus Ungarn via Italien und West-Deutschland in die Halbstadt an der Spree.

Sugihara war eigenwillig. Und mutig

Als dieser Tage Berlins Bundes-Söhne zum 35-jährigen Bestehen ihrer Loge in die japanische Botschaft einluden, entwickelte sich dort bei der Vorführung des Films „Aufrecht im Strom der Zeit“, in Anwesenheit der Regisseurin Susanne Concha Emmrich und der Botschafter Tokios, Stockholms und Wilnas, eine internationale Diskussion – über das Heldentum in dramatischer Zeit. Die Dokumentation handelt von Chiune Sugihara. Der bislang wenig bekannte Japaner war 16 Jahre zuvor durch einen ehemaligen Mitarbeiter Wallenbergs vorgeschlagen worden, als die Loge jemandem einen Preis verleihen wollte, der „sich in besonderer Weise für die Menschlichkeit eingesetzt hat“. Sugihara, geboren 1900, war ein eigensinniger Mann gewesen, er hatte sich den väterlichen Berufswünschen verweigert, englische Literatur studiert; wurde vom Außenministerium eingestellt, nach China geschickt, lernte Russisch und Deutsch, konvertierte zum orthodoxen Christentum. In der Mandschurai, Tokios Marionettenstaat, quittierte er seinen Posten aus Protest gegen die Misshandlung der Chinesen. 1939 wurde er Vizekonsul im litauischen Kaunas, das die UdSSR 1940 besetzte. Der Andrang verfolgter polnischer Juden, denen auf der Flucht vor den Deutschen ohne ein japanisches Transitvisum ihr Weg aus Kaunas durch die UdSSR ins niederländische Curacao (das einzige Land, wo kein Einreisevisum verlangt war) versperrt blieb, führte zu der Entscheidungssituation seiner Biografie.

Er schrieb Visa, bis er Krämpfe bekam

Chiune Sugihara versprach Flüchtlingen, die in seinem Garten übernachteten, sie nicht im Stich zu lassen. Er zögerte die Schließung des Konsulats wochenlang hinaus, stellte gegen die Order aus Tokio, in 20-Stunden-Schichten, unter Schreibkrämpfen, Tausende von Transitvisa aus.

Noch im Zug nach Berlin unterzeichnete er Dokumente, warf sie den Verzweifelten aus dem Fenster, verbeugte und entschuldigte sich, er könne nicht länger schreiben. Die riefen „Banzai Nippon“ (Lang lebe Japan). Eine gesamte jüdische Schule, 300 Lehrer und Studenten, wurde so gerettet, rund 6000 Verfolgte konnten so fliehen. 1947 verlor Sugihara seine Stelle. Als Vertreter einer US-Firma arbeitete er in Russland, wurde 1985, ein Jahr vor seinem Tod, von der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Yashem zum „Gerechten unter den Völkern“ ernannt.

Sein Sohn Hiroko, der 1998 die postume Berliner Ehrung für den Vater entgegengenommen hatte, erinnerte sich damals in seiner Rede an die Gefährdung der Familie: Sugihara senior sei bei den Sowjets, da er sie während des Verkaufs ihrer mandschurischen Eisenbahn um Millionensummen heruntergehandelt hatte, persona non grata gewesen. Tokio wiederum habe jede Visa-Liberalität untersagt, um den Pakt mit dem „Dritten Reich“ nicht zu gefährden. Nach dem Krieg sei die Familie 18 Monate in einem russischen Camp interniert, bei minus 40 Grad mit der Frachtbahn nach Japan zurückgeschickt worden, ein Bruder und eine Tante starben. Zeitweise seien sie arm gewesen, aber sein Vater habe all das nie bereut.

Opfern politischer Verfolgung helfen

In den Statuten der Raoul-Wallenberg-Loge, deren Mitglieder sich zu zwei zwischen den politischen Fronten zerriebenen Vorbildern bekennen, werden als Vereinsziele genannt: öffentliches Eintreten für das Judentum, für den Staat Israel sowie die „Unterstützung hilfsbedürftiger und sozial schwacher jüdischer Personen“ und der „Opfer politischer Verfolgung“. Er habe gerade einen Film zur Situation in Gaza gesehen, sagt Kain, es sei schrecklich dort; leider suggeriere darin der Kommentator, allein Israel trage an all dem die Schuld. Ob er sich vorstellen könne, jüdisch-muslimische Kooperationen zu unterstützen? Bisher wurde das in der Loge nicht diskutiert, sagt der Präsident. Bei B'nai B'rith Europe, wo man in 20 Ländern auch mit nichtjüdischen Aktivisten arbeitet, gebe es solche Projekte.

Für Spenden und Kontakt: www.r-w-loge.de, Tel. 0177 8419646

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