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Berlin: Ein bisschen wie Räuber und Gendarm

Die Wedding-Grundschule liegt in einer sozialen Extremzone. Ohne Schüler, die zu Streitschlichtern ausgebildet werden, geht es nicht mehr

Melissa, unsicher lächelnd: Was willst du, du Spast?

Yusuf, grimmig: Lass mich, du Hure!

Melissa, jetzt auch grimmig: Guck mal, wie du stinkst!

Da bahnt sich was an. Ein Streit mit „Ausdrücken“, der handgreiflich werden könnte. „Ausdrücke“ nennen sie hier Worte, die beleidigen. Solche Worte sind verboten, sagen die Regeln, an die sich alle halten wollen und es dann doch nicht tun. Erforderlich ist jetzt schnelles Eingreifen. Deeskalation.

Ein Fall für Zwei: Riham und Asil, die Streitschlichter. Sie nehmen je einen der Kampfhähne zur Seite.

Asil, leise: Was ist passiert?

Yusuf, bestimmt: Das geht dich einen Scheißdreck an.

Asil, ziemlich streng: Ich muss es wissen, ich bin der Streitschlichter.

Yusuf: Die hat Spast zu mir gesagt, weil ich kleiner bin.

Asil: Ihr geht euch jetzt aus dem Weg. In einer Woche sprechen wir uns wieder.

Der Streit ist nur simuliert. Die Schlichtung auch. Es ist Trainingsstunde für rund 20 Streitschlichter der Wedding-Grundschule. Sie sind zwischen neun und 13 Jahre alt, hochmotiviert und kaum zu bändigen. Viele hier haben selbst Konflikte angezettelt, bevor sie das Lager wechselten. Das gehört zum Konzept. Einige sind hyperaktiv, stören im Unterricht. Sie suchen nach Anerkennung, früher als Raufbold, heute als Streitschlichter. Sie fühlen sich aufgewertet mit dem gelben T-Shirt und der Basecap, ihrer Schlichter-Uniform. Es ist ein bisschen wie mit dem Räuber-und-Gendarm-Spiel: Wer lange Räuber war, will auch mal Gendarm sein.

Die Wedding-Grundschule an der Antonstraße liegt in einer sozialen Extremzone. Viele Familien leben von Sozialhilfe. Die Väter trinken, die großen Brüder verkaufen Drogen. Die Quote ausländischer Schüler liegt bei 90 Prozent. Die Schule ist ein Refugium der Anständigkeit in einem Kiez voller Aggressionen. Die Lehrer sind auch Erzieher und Wertevermittler. Nur noch wenige wehren sich gegen dieses erweiterte Selbstverständnis. Zur den pädagogischen Aufgaben gehört seit einigen Jahren, Schüler zu Streitschlichtern auszubilden. Seit es Schlichter gibt, sei zumindest auf dem Schulhof das Anrempeln, Jacke abziehen, Beleidigen und Mobben erheblich zurückgegangen, sagt Sozialarbeiter Martin Uda. Er leitet die Schulstation der Grundschule – ihr Slogan: Reif für die Insel. Hier treffen sich die Kontrahenten zum Schlichtungsgespräch. Einigen sie sich, wird ein Vertrag aufgesetzt. Die Ursache des Streits ist dabei nicht so wichtig, aber das Ziel der Schlichtung: „Sie wollen sich wieder vertragen.“ Besiegelt per Unterschrift.

Gewalt an Schulen ist ein großes Thema. 422 „Zwischenfälle“ wurden im vergangenen Schuljahr gemeldet. Die Dunkelziffer aber ist viel höher. Die meisten Gewaltakte – Beleidigungen, kleinere Rangeleien und Erpressungen von Geld oder Süßigkeiten – bleiben den Lehrern verborgen. Nicht aber den Schülern. Ob sie eingreifen oder nicht war bisher dem Zufall überlassen. Konfliktlotsen sind dagegen trainiert und greifen immer ein. Wenn sie merken, dass sie nicht ernst genommen werden, holen sie andere Streitschlichter oder Lehrer zu Hilfe.

Hassan, 13, hat sechs Geschwister und muss zu Hause ständig Streit schlichten. Trotzdem gab es auf seiner alten Schule ziemlich viel „Stress“ – was genau, will er nicht sagen. Er musste gehen und wurde an der Wedding-Grundschule aufgenommen – unter der Bedingung, dass er bei den Streitschlichtern mitmacht. Er sagte zu und wartet jetzt sehnlichst auf den Tag, an dem er endlich befugt ist, die gelbe Basecap auf dem Schulhof zu tragen. Er hat bemerkt, dass die Schlichter Respekt genießen. Respekt ist ein wichtiges Wort unter türkischen und arabischen Jugendlichen. Es markiert die Position in der Rangordnung. Es kommt vor, dass Schlichter diesen Respekt für eigene Zwecke missbrauchen, auch außerhalb der Schule. Wenn das durchsickert, sind sie ihren Job sofort los.

Auch Mädchen machen bei den Schlichtern mit. Riham, elf Jahre alt, hat schon mal zwei prügelnde Jungs auseinander gebracht. Erst hat sie eine Freundin zu Hilfe geholt, dann einen Lehrer. Als sie deswegen zu spät zum Unterricht kam, musste sie allerdings ein paar Minuten vor der Klasse stehen bleiben. Nicht alle Lehrer haben Verständnis für die Arbeit der Streitschlichter.

Jeden Montagnachmittag treffen sie sich zum Training. Es machen auch Kinder mit, die auf absehbare Zeit keine Schlichter werden können, weil sie sich selbst nicht unter Kontrolle haben. Asil, elf Jahre alt und erfolgreicher Streitschlichter, weiß, dass man als erstes lernen muss, sich selbst zu beherrschen. Darin liegt die Macht, „Ausdrücke“ unschädlich zu machen.

„Wenn mich jemand ,Lisa‘ ruft, also meinen Namen rückwärts sagt, werde ich total wütend und merke, wie meine Faust hochgeht. Dann versuche ich, die Faust wieder herunterzuholen und die Wut aus mir herauszunehmen.“ Beim Abkühlen seiner Aggression kommt Asil etwa folgendes über die Lippen: „Hör auf, sonst beleidige ich dich auch.“ Asil, der mal in eine Förderklasse ging, strebt inzwischen das Gymnasium an. Seit er Schlichter ist, sind seine Leistungen erheblich gestiegen.

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