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Berlin: Ein Gefühl von Betrug

Schwarz-Gelb-Grün? Für Berliner Grünen-Wähler ist das eine schwer verdauliche Kombination

„Jamaika“ – die KaribikInsel ist zum Synonym für die exotischste Koalitionsvision geworden, die nach dem knappen Ergebnis der Bundestagswahl im Gespräch ist. Aber ein Bündnis mit CDU und FDP ist für viele Grünen-Wähler gewöhnungsbedürftig. Wir haben uns umgehört.

Steglitz-Zehlendorf. Die grüne Basis hält nichts von Jamaika, nicht mal dort, wo sich viele für bürgerliche Grüne halten. In Steglitz–Zehlendorf, wo die Grünen 15,9 Prozent der Zweitstimmen errangen, wurden Ampel und Jamaika schon diskutiert. Ergebnis: Besser wäre die Opposition. Kreisvorstandsmitglied Irma Franke-Dressler ist wie die meisten davon überzeugt, dass außer einigen Gemeinsamkeiten beim Thema Bürgerrechte Grüne und FDP nichts verbindet. Bei Steuern, Wirtschaft, Sozialem, Gesundheit wolle man sich an der „Privatisierungsorgie“ der FDP nicht beteiligen – das würde die Grünen zerreißen. Deshalb halten die Süd-West-Grünen auch von der Ampel nichts: Da müsse man sich noch mehr verbiegen, als man es in der rot-grünen Koalition schon musste.

Charlottenburg-Wilmersdorf . Hier erreichten die Grünen das zweithöchste Ergebnis in Berlins Wahlkreisen – 19,4 Prozent. „Jamaika – das wäre blanker Opportunismus!“, sagt Helgard Friedenau, die im Laden „Vinalia“ Wein verkauft. Grüne Parteimitglieder erhalten fünf Prozent Rabatt. Sie würde sich betrogen fühlen, „wenn die Partei, die einmal alles anders machen wollte, gemeinsame Sache mit dem Feind macht“. Das Betrugsgefühl haben vor allem die Kurz-nach-68er aus Charlottenburg. Von einem Verrat am Wähler sprechen eine Sekretärin im Ruhestand und ihre Freundin, eine Psychologin. „Gehen die Grünen eine Koalition mit der CDU ein, wähle ich die auf keinen Fall mehr“, sagt Heidi Romijn. „Das hätte einen bitteren Beigeschmack.“ Die jüngeren Wähler scheinen das weniger ideologisch als sachorientiert zu sehen: „Die Einigung bei Themen wie Umwelt und Außenpolitik, insbesondere bezüglich Türkei und USA, wird wohl schwierig“, sagt Tamara Bernsttorf, 31. Grundsätzlich sehe sie Unionsparteien und Grüne aber nicht mehr so weit voneinander entfernt, dass es sie enttäuschen würde, wenn es zu Jamaika kommt. Ein Mann mit Vollbart und bunten Hosen in der Danckelmannstraße, wo sogar 39,3 Prozent der Wähler Grün wählten, ist gerade auf dem Weg ins grüne Stammlokal „Dicker Wirt“ – und ganz anderer Meinung: „Jamaika, das wäre doch alles eine große Sch...“.

Simon-Dach-Kiez, Friedrichshain. Es ist nicht so, dass man hier etwas gegen Jamaika hätte, im Gegenteil. Bob Marley ist ein Idol, an Sommertagen dröhnt seine Musik aus Cafés und Wohnungen. Das Porträt des kiffenden King of Reggae hängt an der Tür eines Headshops, der Zubehör für den Cannabis-Konsum verkauft. Auch die Grünen werden in der Gegend hoch geschätzt: gutes zweistelliges Wahlergebnis, und Christian Ströbele, Direktkandidat in Friedrichshain-Kreuzberg, hat hier fast fünzig Prozent der Erststimmen geholt. Ströbele hat ein Jamaika-Experiment klar abgelehnt, wie stehen seine Wähler zu Schwarz-Gelb- Grün? „Das geht überhaupt nicht“, sagt Luise Neumann-Cosel. Die 19-Jährige, strubbelige kurze Haare, Halstuch, Cordhosen mit Schlag, ist empört. „Es gibt mit der CDU nur wenige Gemeinsamkeiten, siehe Atomausstieg. Und mit der FDP gibt keine Gemeinsamkeiten.“

„Die Schwampel wäre aus Sicht der Grünen Wählerverarschung und politischer Selbstmord“, sagt Luise Neumann-Cosel. Sie will aus der Partei austreten, wenn es so weit käme. Die junge Frau, die dies sagt, ist politische Geschäftsführerin der Grünen Jugend in Berlin. Wenn es nach ihr geht, sind die Grünen ab sofort Oppositionspartei – das wäre der „ehrliche Weg“.

Die vier jungen Männer, zwei Studenten, ein Grafiker, ein Informatiker, die vor einer Kneipe nahe dem Boxhagener Platzes sitzen, sehen das ähnlich. Sie gehen seit Sonntag nicht mehr als waschechte Grünenwähler durch, weil sie Ströbele gewählt haben, mit der Zweitstimme aber SPD, um Schwarz-Gelb zu verhindern. „Fischer hat das einzig Richtige getan: die Niederlage eingestanden und den Rückzug angekündigt“, sagt einer. Die Koalitionsspekulationen wabern an diesem Nachmittag durch die Cafés im Kiez. Auch auf der Liegewiese am Boxhagener Platz wird diskutiert. Früher oder später taucht in den Gesprächen ein Schreckgespenst auf. Immer ist es Gelb. Wenn die Grünenwähler im Kiez das Kürzel FDP aussprechen, machen sie ein Gesicht, als hätten sie eine Nacktschnecke verschluckt. Und doch gibt es einige, die nicht sicher sind, ob es für die Grünen nicht doch besser wäre, wenn sie sich auf das Modell Jamaika einließen. Dörte Nielsen, 34 Jahre alt und Grafikdesignerin, und Anna Bötticher, 35, Produzentin, gehören dazu. „Schön ist der Gedanke nicht“, finden sie. „Aber vielleicht ist es besser, in der Regierung einige wenige Akzente zu setzen als in der Opposition ganz zu verschwinden.“ jea/hmr/mne

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