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Ein Justizirrtum und seine Folgen: Frau Anselm wurde geräumt

Man zeigte ihr einen großen Berg Schrott. Das kann doch nicht sein, sagte sie. Dass jemand ihr Leben einfach so auf den Müll wirft. Aber genau das ist passiert. Wie ein Berliner Gerichtsvollzieher irrtümlich einen Keller räumen ließ und die Geschädigte trotzdem nicht Recht bekommt.

Frau Anselm ist überrascht. Männer tragen Möbel, Kartons und einen Schlitten aus ihrem Haus, einem nüchternen Wohnblock im Norden Berlins. Auf der Straße stapeln sich die Habseligkeiten, um in zwei Lieferwagen geladen zu werden. „Ach“, sagt Frau Anselm zur Dame von der Hausverwaltung, „die Wohnung von Frau Schwuchow?“

„Ja, Frau Schwuchow.“

„Ist es schlimm?“

„Nein, kaum was drin. Nur der Keller ist voll.“

Heute sagt Frau Anselm, man habe eben geredet, wie man so redet, wenn die Wohnung der Nachbarin wegen ausstehender Mieten zwangsgeräumt wird. Es geht einen nichts an, aber irgendwie ja doch. „Gucken Sie mal, die Schwuchow hat auch so einen alten Schlitten wie ich“, bemerkt Frau Anselm erstaunt und geht ihrer Wege.

Was sie am nächsten Tag empfindet, geht über Erstaunen weit hinaus. Da steht Frau Anselm vor ihrem eigenen Keller, und er ist leer.

Zunächst glaubt Frau Anselm, seit neun Jahren Mieterin in dem Haus, man habe sie beraubt. Das Vorhängeschloss ist aufgeknackt worden. Sie ruft die Polizei. Aber der Polizeibeamte sagt, dass kein Dieb erst sämtliche Sachen aus einem Keller stehle und ihn dann ausfege. Da erwähnt Frau Anselm die Räumung und den Schlitten vom Vortag. Und der Polizist sagt, dass er nun nicht mehr zuständig sei. Was ein Gerichtsvollzieher tut, ist keine Straftat.

Da denkt Frau Anselm, dass sich die Angelegenheit schnell würde klären lassen. Ein Irrtum, so etwas könne man doch rückgängig machen. Doch auch ein Dreivierteljahr später wartet sie noch auf ihre Sachen. Nicht mal eine Entschuldigung hat sie erhalten.

Der Fall sei „die absolute Ausnahme“, sagt ein Gerichtsvollzieher aus einem anderen Bezirk. Anselms Schicksal zeigt jedoch, dass man erst irrtümlich enteignet und danach ganz legal entrechtet werden kann. Und dass der Staat, der seine Bürger beschützen soll, manchmal genau das Gegenteil tut.

Um davon erzählen zu können, sind sämtliche Namen geändert oder anonymisiert worden. Erzählen etwa, wie Frau Anselm schon einen Tag nach der Räumung, es war Freitag, der 13. Mai, ins Telefon gebrüllt, Drohungen ausgestoßen, geweint und gewütet hat. Sie habe sich vergessen, findet sie heute. „Mit großer Wahrscheinlichkeit ist alles entsorgt“, erklärte ihr die Hausverwaltung. Was klang, als müsste sie die Hoffnung schon jetzt aufgeben. Die Tochter versuchte, die aufgebrachte Dame zu beruhigen. „Mutter“, sagte sie, „du brauchst nichts von dem Zeug, das Leben geht weiter.“

Aber das Leben ging nicht einfach weiter. Frau Anselm erlitt einen Nervenzusammenbruch. Sie ist seither in psychiatrischer Behandlung.

Frau Anselm steht in der Tür ihrer kleinen 1-Zimmer-Wohnung, eine resolute Dame. Sie redet schnell und erklärt das mit ihrer angespannten Situation. Sie sieht sich im Recht und hat einen stürmischen Sinn fürs Korrekte – als ehemalige Beamtin in der Berliner Innenverwaltung. Nun stapelt sich der Schriftwechsel über ihren Fall in säuberlich gehefteten Dossiers. Nach Themen und chronologisch sortiert. Ihr Leben ist in Unordnung geraten, in diesen Papieren setzt es sich wieder zusammen.

Dass der Staat sie, seine frühere Dienerin, beraubt, darauf war sie nicht gefasst. In ihrer „lieben kleinen Wohnung“ habe sie sich immer sicher gefühlt, erklärt sie, „ein Rückzugsort, wie man ihn einfach braucht“. Aber jetzt will sie ausziehen, bloß weg von „diesem Tatort“. Der Teppich ist bereits aufgerollt, und an der Wand fehlen die Bilder. „Wenn ich nach Hause komme, denke ich nur: Ob noch alles da ist?“

Zu diesem Zeitpunkt, es ist Mitte Dezember, weiß Frau Anselm noch nicht, wem sie die Schuld geben soll. Ist der Irrtum Teil eines Systems? Und was für ein System gibt dem Gerichtsvollzieher so weitreichende Rechte?

Am 12. Mai 2010, dem Tag der Räumung, will niemand einen Irrtum begangen haben. Der Gerichtsvollzieher S. nicht, ebenso wenig die Hausverwaltung. Zusammen hatte man im Untergeschoss nach einem der Wohnung von Frau Schwuchow „zugehörigen, mit dem Namen der Beklagten gekennzeichneten Kellerraum“ gesucht. Doch Namensschilder gab es nicht. Er sei, schrieb S. später in einer Stellungnahme, auf die Angaben Dritter angewiesen gewesen. Trotzdem soll der Vollstrecker aus den eingelagerten Umzugskartons eine Akte herausgezogen und nach einem weiteren Hinweis auf die Eigentümerin gesucht haben. Er fand ihn wohl auch. In einer Akte, die den Scheidungsfall Zuchow behandelte.

Was niemand wissen konnte: Frau Zuchow nahm nach der Scheidung ihren Mädchennamen Anselm wieder an. „Ausgerechnet diese eine Akte hat er zu fassen gekriegt“, vermutet Frau Anselm. Zuchow statt Schwuchow. Eine simple Verwechslung?

Für die Hausverwaltung stellt sich der Fall komplizierter dar. Denn Frau Anselm zog 2009 zwei Etagen höher in eine kleinere Wohnung. Die Kinder waren aus dem Haus, da genügte ihr das 1-Zimmer-Appartement. Den alten Keller behielt sie und verstaute dort große Teile ihres Hausrats, den sie nun in der Wohnung nicht mehr unterbekam.

„Auf welche Weise der Raum in den Besitz von Frau Anselm gelangt ist, kann nicht nachvollzogen werden“, heißt es in einem Schreiben der Hausverwaltung vom Juni 2010. Die hätte es wissen können. Erst zwei Jahre zuvor hatte sie Frau Anselm wegen eines Wasserschadens im Keller eine Mietminderung gewährt. Jetzt beruft man sich auf eine „Aktenlage“, nach der die Mieterin mit ihrem Umzug innerhalb des Hauses quasi selbst für das Durcheinander verantwortlich ist. Zudem sei der Keller „generell nur als Nebengelass vermietet“, sagt eine mit dem Fall betraute Dame von der Hausverwaltung und meint: Wertgegenstände gehörten da nicht hin. „Jeder sieht das, was für ihn wertvoll ist, ein bisschen anders.“ Mehr will sie nicht sagen.

Sie sei ihrer „Vergangenheit beraubt“ worden, klagt Frau Anselm, „meines anfassbaren Gedächtnisses“. Sie kämpft mit sich, als sie von dem Teddybär erzählt, der vom Vater kam, und der sich nicht im Keller befand. Ihn habe sie behalten „dürfen“, sagt sie spitz. Der Rest – In detaillierten Listen hält sie fest, was sie erinnern kann. Weg sind ihre Spielsachen, die sie als Kind von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte. Außerdem fehlen drei Koffer mit Weihnachtsschmuck, Kontoauszüge, Krankenkassenunterlagen, ärztliche Befunde, originale Baupläne eines Hauses, das sie und ihr Ex-Mann gebaut hatten, Verträge und Gehaltsabrechnungen, Unterlagen zu Aktiengeschäften. Zudem Haushaltsbücher, Tagebücher und Briefe. Wer schützt sie nun davor, dass Privates von ihr in Umlauf gerät? Und sollten dem Gerichtsvollzieher die Lego-Steine aus den 80ern entgangen sein, die heute bei Ebay für 3700 Euro gehandelt würden. „So dumm ist keiner, so etwas wegzuschmeißen.“

Aber Frau Anselm hat es schwarz auf weiß: Der Gerichtsvollzieher hat das „Räumungsgut … als wertlos und nicht einlagerungsfähig festgestellt“. Noch am selben Tag wurden die Sachen zu einem Entsorgungsfachbetrieb gebracht, als „Sperrmüll“ klassifiziert, gewogen (0,9 Tonnen) und auf einen großen Berg geworfen. Als Frau Anselm eine Woche später selbst nachsehen wollte, zeigte man ihr einen Berg. Da war nichts zu machen, alle 24 Stunden wird er neu aufgetürmt.

Frau Anselm spürt, dass ihre Suche von Anfang an behindert wird. Das Amtsgericht sagt ihr, sie solle sich an die Hausverwaltung wenden. Von der hört sie, dass das Gericht zuständig sei. Gerichtsvollzieher S. ist telefonisch nicht zu erreichen. Gerichtsvollzieher wissen nur, zwischen zwei Parteien zu vermitteln. Dass plötzlich jemand drittes auftaucht und Ansprüche geltend macht, ist nicht vorgesehen. Frau Anselm sitzt in der Falle. Als sie einen Anwalt einschaltet, wird dem von S. mitgeteilt, „weitere Unternehmungen, die Sachen zu retten, könne und wolle man nicht anstellen“.

Es sei auf Zeit gespielt worden, denkt Frau Anselm heute. „Es sollte vertuscht werden, erst mal nur pro forma, später gezielt.“ Sie hat einen schlimmen Verdacht. Die Sachen könnten unter der Hand weiterverkauft worden sein. Dass es nur Gerümpel war, Dinge, die sie selbst aus ihrem Leben verbannt hatte, lässt sie nicht gelten: „Die entscheiden darüber, was aus meinem Leben Müll ist, das lasse ich mir nicht bieten.“

Um zu unterstreichen, worum es dabei auch geht, holt sie ein Din-A-4-Blatt hervor. Darauf hat sie in geschwungenen Lettern das Wesentliche notiert:
3 Grundrechte verletzt
1) Unverletzbarkeit der Wohnung
2) Recht auf Datenschutz
3) Grundrecht auf Eigentum.

Es ist, als habe der leere Keller eine Saite in ihr angeschlagen. Die vibriert nun. Und der Ton gefällt Frau Anselm selbst nicht. Ein ärztliches Attest bescheinigt ihr „aufgrund ihrer Lebensgeschichte ein hohes Sicherheits- und Kontrollbedürfnis“. Das hat sich in Regeln und Rituale übersetzt, wie jemand sie vielleicht braucht, dem mehrfach der Boden unter den Füßen weggerissen worden ist.

1947 in Sachsen geboren, wurde Anna Anselm adoptiert und wuchs in Potsdam auf, sie fühlte sich von ihren neuen Eltern angenommen und geliebt. Sie meinte sogar, große Ähnlichkeiten zu ihrem Vater zu erkennen, obwohl der doch gar nicht ihr leiblicher Vater war. Aber das verschwiegen ihr die Eltern. Erst 1968, mit 21 Jahren, eröffneten sie ihr, dass sie „angenommen“ worden war. Sie sei „irritiert gewesen, na klar“, sagt Frau Anselm, es habe sich aber in der Liebe zu den Eltern dadurch nichts für sie geändert.

Familie Anselm hatte miteinander einiges durchgemacht. Als das Mädchen Anna gerade laufen konnte, wurde ihr Vater, ein wichtiger Mann bei der Deutschen Handelszentrale, von der Staatssicherheit abgeholt. „Ich öffnete die Tür, die Stasi-Leute standen in grünen Ledermänteln davor, fragten: ,Ist dein Papa da?’ Von da an war er verschwunden.“ Ein Jahr saß er in Bautzen ein, Einzelhaft, weil er Ostwaren in den Westen verschoben haben sollte. Die Tochter glaubt es bis heute nicht, sie spürte nur das Unrecht, das ihr den Vater nahm. „Er wollte immer mit mir darüber reden, konnte es aber nicht.“ 1953 floh die Familie in die Bundesrepublik, baute sich in West-Berlin ein neues Leben auf.

Die Akte mit dem DDR-Verfahren gegen den Vater bewahrte Frau Anselm im Keller auf. Die 63-Jährige hatte nie die Kraft aufgebracht, sie sich anzusehen, der Vater tat ihr noch immer „zu sehr leid“. Nun kann sie es nicht mehr, denn auch die Akte ist weg, entschuldigungslos vernichtet.

Was ist etwas wert? Gerichtsvollzieher haben auf diese Frage ihre eigene Antwort.

„Das Mindestgebot liegt bei 50 Euro“, sagt einer, der als Auktionator etwas erhöht hinter einem Pult steht. Es ist Freitagvormittag, kurz nach elf. Ein paar schäbige Lieferwagen mit abgeklebten Fenstern und verbeulten Stoßstangen sind vor der Weddinger Pfandkammer vorgefahren. Es seien immer dieselben Trödelhändler, hatte ein Eingeweihter gesagt. Die schleichen nun um das Leben eines Menschen herum, mit dem anders verfahren wurde als mit dem von Frau Anselm. Nicht weggeschmissen, sondern in Kartons verpackt und hier gestapelt wurde es, zwei Wagenladungen voll. Was die Sachen dem früheren Besitzer bedeutet haben, das geht hier im Kennerblick der Bieter verloren. „Alles Kleidung?“, fragt einer und linst in die Umzugskisten. Ein Fernsehgerät, japanisches Fabrikat, Wasch- und Geschirrspülmaschine seien auch dabei, sagt der Gerichtsvollzieher und geht noch einmal seine Liste durch. „Die Kartons allein sind 50 Euro wert.“ Niemand ist sonderlich interessiert. Die Partie ist nur als Ganzes zu haben. Ein Händler hebt die Hand. Er wird alles für das Mindestgebot mitnehmen.

Allein in Mitte wurden vergangenes Jahr 1716 Räumungsklagen erhoben. Doch Pfändungen nehmen immer mehr ab. Luxusgüter sind oft nur den Bruchteil ihres Kaufpreises wert, es lohnt sich nicht, sie zur Tilgung von Schulden heranzuziehen. Und seit nach einem Urteil des Bundesgerichtshofs von 2005 die „Berliner Räumung“ eingeführt wurde, ist der sofortigen Entsorgung Tür und Tor geöffnet. Erlaubt ist das nicht, doch Schuldner, die mental sowieso angeknackst sind, neigen nicht dazu, sich gegen diese Willkür zu wehren.

Frau Anselm hat sich gewehrt. Im August erstattete sie Strafanzeige. Doch die Staatsanwaltschaft stellte das Ermittlungsverfahren ein. Ein Vorsatz sei bei der Verwechslung nicht erkennbar, hieß es. Auch die Präsidentin von S.’ Amtsgericht stärkt ihrem Untergebenen den Rücken, nennt es „reine Förmelei“, wenn der Gerichtsvollzieher auf der namentlichen Kennzeichnung des Kellerraums bestanden hätte.

Allerdings hätte S. Werthaltiges aufbewahren müssen. Das sei der „zentrale Fehler“, heißt es auf Anfrage seitens des Gerichts. Erst wenige Monate zuvor war in dem Gerichtsbezirk ausdrücklich auf diese Pflicht hingewiesen worden. Die Gerichtspräsidentin räumt deshalb ein, dass eine Beschwerde „teilweise begründet“ sei. Ein Gerichtsvollzieherkollege wird deutlicher. Oftmals hätten sie es mit „Messi-Buden“ zu tun, objektive Kriterien, was von dem Inventar als Müll anzusehen ist, fehlen. „Deshalb gilt als oberste Regel: großzügig aufbewahren.“

Der Keller von Frau Schwuchow, die lange vor der Räumung aus dem Mietblock verschwunden war, ist bis heute unberührt und voll. Alte Möbel verstauben darin. Die holt keiner mehr ab.

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