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Berlin: Ein Kind dieser Stadt

Wie eine deutsche Familie aus Russland in Berlin Fuß fasste

Was Lilia Kleim ihrer zwei Tage alten Enkelin wünscht? „Dass sie glücklich wird. Und dass sie diese Probleme nicht hat, die wir am Anfang hatten.“ Ein Kind ist geboren, sein Name ist Lina, und im Pass wird als Geburtsort nicht eine sibirische Stadt stehen, sondern Berlin. Die Großeltern, Lilia und Viktor Kleim, sind vor acht Jahren aus der kalten Heimat jenseits des Urals in die Stadt ihrer Sehnsucht gekommen. Warum? Auf diese Frage, tausendmal gestellt, hat Lilia Kleim eine poetische Antwort: „Wir haben’s dort auf unserer Haut gespürt, dass wir keine Russen sind.“ Deutsche sind sie – sie und ihre Kinder, die 19-jährige Olga und der 25-jährige Sergej. „Russlanddeutsche“ oder „Spätaussiedler“ fügen sie meist als Erklärung hinzu. Sergejs Tochter Lina wird die erste in 200 Jahren Familiengeschichte sein, die nicht erklären muss, woher sie kommt.

„Die Probleme, die wir hatten.“ Lilia Kleim spricht davon schon in der Vergangenheit. Die Kleims bekommen mit jedem Jahr in Berlin mehr Boden unter die Füße. Und Linas Geburt ist für die Familie wie ein zweiter Startschuss. Die vorläufige Bilanz sieht gut aus. Auf der Habenseite stehen: eine fünfzimmrige Wohnung im Märkischen Viertel, gemeinsam mit Lilias Mutter; Lilias Arbeitsstelle im Sozialamt Reinickendorf, wo sie Landsleuten hilft, Fuß zu fassen; Tochter Olga – eine gute Schülerin auf dem Gymnasium, Englisch und Französisch Leistungskurs; Sohn Sergej mit Schwiegertochter Renate und seiner Arbeit als Angestellter in einem Medienkaufhaus; und jetzt die Enkelin. Auf der Soll-Seite steht nur ein Posten: eine neue Arbeitsstelle für Viktor. Der 54-jährige Familienvater hat mit seinem Berliner Geschäft Pleite gemacht. Wie seine Frau war er in Russland Deutschlehrer an einer Hochschule in Omsk. In Berlin erinnerte sich Kleim an seine Jugend auf dem Dorf, krempelte die Ärmel hoch und eröffnete mit einem Schlachtergesellen ein Fleischgeschäft in Marzahn. „Wir waren gut“, sagt Viktor, „aber nicht konkurrenzfähig.“

Entmutigt hat ihn das nicht. „Die Hoffnung stirbt zuletzt“, übersetzt er ein russisches Sprichwort. Mit Lilias Hilfe hat Viktor vor ein paar Monaten eine Honorarstelle in einem Reinickendorfer Seniorenklub gefunden. Außerdem arbeitet er ehrenamtlich – für die eigene Familie. Vom großen Kleim-Clan in Sibirien sind schon viele nach Berlin gekommen. Und obwohl Lilia jedem einzelnen „ehrliche Briefe“ über das Leben in Berlin schreibt, sind jetzt auch noch ihre beiden Schwestern mit Männern und Kindern angekommen. Viktor Kleim geht mit ihnen zum Arbeitsamt, zum Wohnungsamt, zeigt ihnen die Stadt. Und sucht weiter Arbeit für sich.

Dass nicht alles auf Anhieb klappt, haben die Kleims schon bei Sergej gemerkt. Er studierte erst BWL, dann Sprach- und Literaturwissenschaft, aber auch dieses Studium brach er ab. Und mit 20 heiratete er – Renate, ein 18-jähriges Mädchen aus Russland, das abgeschoben werden sollte. Aber Sergej fühlte sich als Familienoberhaupt herausgefordert und kniete sich in die Arbeit. Und heute ist Sergej fest angestellt und kann seine Familie ernähren.

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