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Berlin: Ein Märchen nach Noten

Nach der Hilfe durch Hans Wall hofft die traditionsreiche Musikalienhandlung Riedel, die Pleite abwenden zu können

Am Sonntagnachmittag, als er in seinem Laden ganz allein war, erinnerte sich Hans-Wolfgang Riedel nochmal an alles, was er in den vergangenen zwei Tagen erlebt hatte – und hoffte, dass es wirklich wahr ist. Wie ein modernes Berliner Märchen kommt ihm die Sache vor. Da klingelte Samstag früh in seiner insolventen Musikalienhandlung an der Uhlandstraße in Wilmersdorf das Telefon, es meldete sich der Berliner Unternehmer Hans Wall und erklärte, er wolle dem traditionsreichen Geschäft finanziell helfen. Punkt zwei Uhr kam der Senior-Chef der Stadtmöblierungsfirma Wall AG dann selbst in den Laden und erwarb für 100 000 Euro eine Gesamtwerksausgabe aller bedeutenden Komponisten. Dem Konservatorium für Musik in St. Petersburg will er sie spenden. „Damit sind wir fürs Erste wieder flüssig“, freut sich Hans-Wolfgang Riedel.

Nun zieht der 56-Jährige heftig an seiner Zigarette und geht mit beschwingten Schritten zum Computer. Einen Packen Solidaritätsmails und Briefe hält er hoch. Sie trafen ein, nachdem der Tagesspiegel am vergangenen Freitag über das drohende Ende bei Riedel berichtet hatte. Sogar aus Japan hat ihm eine Kundin geschrieben und versprochen, sie werde alle europäischen Musikfreunde zum Einkauf bei Riedel animieren. Außerdem überschüttet ihn die Kundschaft im Laden mit Treuebekundungen. Und das Berliner Kammerorchester plant sogar ein Solidaritätskonzert mit Starsolisten für die 97 Jahre alte, in der dritten Familiengeneration geführte Musikalienhandlung mit einem der umfangreichsten Notensortimente Europas. Dieser Zuspruch hat Riedel „beflügelt“ – die Spontanaktion des Mäzenaten Hans Wall hat ihm konkrete Hoffnung gegeben.

Hans Wall fragte ihn bei seiner Offerte, was er denn für runde 100 000 Euro erwerben könne. Da stieg der Musikalienmann sofort auf eine Klappleiter zwischen den vielen eng gestellten Buchregalen im hinteren Bereich des Ladens und wies ganz oben auf dicht beieinanderstehende, großformatige Notenbücher mit verschiedenfarbigen Einbänden. Kaminrot für Brahms, braun für Bach, dunkelblau für Händel. Wie eine Bücherschlange von rund 30 Metern Länge lagern diese gesammelten Notenpartituren von 40 Komponisten auf den obersten Brettern von sechs Nachbarregalen. 1500 Bände von verschiedensten Verlagen, teils in geringen Auflagen von 250 Exemplaren. Riedel hat sie zu einer einmaligen Gesamtwerksausgabe zusammengestellt.

Diesen Schatz verkauft man nicht so schnell komplett. Deshalb steht die Sammlung seit längerem im Laden und bindet Kapital, das dafür investiert wurde. Mit Walls Hilfe bekomme er das Geld nun wieder in die Hand und könne den Schuldenstand begleichen, erklärt Hans-Wolfgang Riedel. Ob das Geschäft damit tatsächlich gerettet werden kann, muss der Insolvenzverwalter entscheiden.

Wall jedenfalls ging auf den Kaufvorschlag ein, wusste aber noch nicht so recht, was er mit der Gesamtwerksausgabe anfangen sollte. Da schlug ihm Riedel aufgrund seiner Kontakte zu russischen Musikalienkunden vor, den Berliner Solidaritätscoup mit einer Hilfsaktion in Petersburg zu verbinden. Das passte aus zwei Gründen: Zum einen braucht das Konservatorium als Hochschule für Musikstudenten dringend eine solche Partiturensammlung, kann sie aber selbst nicht bezahlen. Zum anderen ist die Wall AG auch in Petersburg mit ihren Buswartehäuschen oder Plakatsäulen engagiert.

Der Mäzen erhofft sich von seinem Einsatz nun eine Vorbildwirkung für Berlin, Traditionsunternehmen müssten in der Krise doch Unterstützung erfahren. Und Hans-Wolfgang Riedel überlegt bereits, wie er die 1500 Bände schonend verpacken kann. Bis dahin wird er hin und wieder zu den höchsten Regalbrettern hinaufsteigen und zur eigenen Freude in den Partituren blättern. „Hier“, sagt er, „Paul Hindemith, ein Komponist mit Humor.“ Es ist die Oper „Mörder, Hoffnung der Frauen“.

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