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Rasender Stillstand: Die Oranienburger Straße mit dem Dach der Synagoge, vom S-Bahn-Ausgang gesehen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Ein Spaziergang durch die Oranienburger Straße: Vom Kulturprekariat zur Kulisse für Touristen

Einst stand sie für die Kraft von Berlins Kulturprekariat. Heute jobben in der Oranienburger Straße Wanderarbeiter in Hotels, die am verblassten Mythos verdienen. Ein Spaziergang.

Vor dem Postfuhramt stoppt ein großer gelber Reisebus aus Bremen. Jugendliche steigen aus und ziehen ihre Rollkoffer klappernd über die Straße, rüber zum „Meininger“. Der Name der Hotelkette ist für Berliner verbunden mit der Mutter aller Architektursünden, weil ein scheußlicher Neubau am Hauptbahnhof für Meininger gebaut wurde. „Es kommen fast immer nur Touristen“, sagt Debora Nottorno über die Oranienburger Straße. Kahl rasiert an den Schläfen, großes buntes Blumentattoo am Oberarm steht sie im „Aufsturz“ hinterm Tresen. Debora stammt aus Italien und wohnt seit Juli in Moabit. Sie zog von London her, weil Freunde dort von Berlin schwärmten: „Ist Großstadt, aber nicht so viel Stress“, sagt sie – eine von 40 000 Neuberlinern, um die die Stadt im vergangenen Jahr wuchs, drei Viertel davon kamen aus dem Ausland.

Statt Fotokunst gibt's Herzschrittmacher

Abschrecken lassen sich die Investoren davon nicht: Aus dem Inneren des komplett eingerüsteten Postfuhramtes gegenüber dringt Baulärm auf die Straße. Über die Zukunft dieses Baudenkmals mussten Gerichte urteilen und wiesen die Klage eines Nachbarn ab. Nun wird das 1881 fertiggestellte Baudenkmal im großen Maßstab erweitert: Ein siebengeschossiges Wohnhaus sowie ein ebenso großer Anbau sind geplant – noch ein Hotel. Mittes Baustadtrat Carsten Spallek (CDU) freut’s. Er lobt den Investor für den behutsamen Umgang mit der Bausubstanz und genehmigte einen vierten Turm für das Denkmal: Es werde ja nur rekonstruiert, was im Bombenhagel zerstört worden sei, sagt er.

Statt mit Foto und Kunst wird hier künftig mit Herzschrittmachern experimentiert: Die Firma Biotronic erwarb vor zwei Jahren das Postamt von israelischen Spekulanten. Der Hersteller von Pharmatechnik hüllt sich in Schweigen zu seinen Plänen. Für einige ist er der Gentrifizierer im Kiez, denn letztlich verdrängte er das viel besuchte C/O-Ausstellungshaus aus dem Quartier. Dessen Umzug in die City West hinterlässt Spuren im Osten: „Zu vermieten“ steht auf einem Plakat an den Fensterscheibe des benachbarten „Oranium Diner“. Zuletzt gab es in der Restaurant-Bar „alle Cocktails für 3,90 Euro“. So steht es noch auf der Kreidetafel des verlassenen Ladens. Leer steht auch das Erdgeschoss der „Humboldt Höfe“ gegenüber, einem Bürohaus.

Eine Meile im Wartestand

Hüllen ohne Innenleben, die Oranienburger ist gegenwärtig vor allem Kulisse für Touristen: modern in den Baulücken, historisch daneben, die einen schick, die anderen abgewrackt, aber abgekoppelt vom Kiezleben an den Modeboutiquen und Galerien im Inneren des Scheunenviertels – eine Meile im Wartestand. An deren Zukunft der frühere Pizza-Multi Ernst Freiberger trotzdem ganz fest glaubt. 300 Millionen Euro aus dem Verkauf seiner Firmen investiert er, um die 31 000 Quadratmeter große Technik- und Medizinbrache in das „Forum Museumsinsel“ zu verwandeln, das drei Mal so viel vermietbarer Fläche bieten wird.

Das Areal reicht vom Logenhaus an der Oranienburger Straße bis zur Spree hinunter, besteht aus gut einem halben Dutzend historischer Bauten, neben Haupttelegrafenamt und Fernsprechamt überwiegend frühere Krankenhaus- und Forschungsbauten der Charité aus dem vergangenen Jahrhundert – gebaute Stilgeschichte, die vom Neobarock über Expressionismus bis zum Bauhaus reicht.

Baustellen wird es hier noch Jahre geben

Ein neuer Stadtteil soll hier entstehen: mit einer Markthalle, einem 9000 Quadratmeter großen Veranstaltungsplatz an der Ziegelstraße und Geschäften, die Kunst und Antiquitäten handeln werden. Die Ziegelstraße hätte Freiberger am liebsten dazugekauft und für den Verkehr gesperrt. Wer dort an den Baucontainern vorbeifährt, weiß, warum: Die Straße ist eng, der Bürgersteig schmal und der Platz würde gewinnen, wenn sie gesperrt wäre. Der Bezirk lehnte ab, will den Verkehr aber einschränken. Und sollte das Quartier so gut ankommen, dass sich Besucher in Scharen durch die Blöcke drängen, stellt der Baustadtrat die Einrichtung einer verkehrsberuhigten Zone in Aussicht. Bis dahin wird es aber noch Jahre dauern. Hier und da donnern Presslufthammer im Innern der Altbauten. Nur am südwestlichen Rand des Areals ist ein Neubau vollendet: in hellem Sandstein mit großen Fensterbögen, der Sitz der Telekom-Akademie.

Auch der Streit um den Uferweg, der das neue Quartier mit dem Rest der Stadt verbindet, ist beigelegt: Er bleibt öffentliches Eigentum. Spallek hätte ihn lieber Freiberger überlassen. Weil der Bezirk nicht genug Geld zur Pflege habe – Freiberger dagegen schon. Einigkeit herrscht im Bezirk auch darüber, dass im benachbarten Monbijoupark die Kita auch künftig das frühere Klinikgebäude nutzen darf und Theater sowie Kleinkunst in der „Märchenhütte“ auf dem Bunker. Auch die Strandbar soll erhalten bleiben. Über den Rummel im Sommer „hat sich noch niemand beschwert“, sagt Spallek – eher noch über das Grillen im Park. Nun will der Bezirk Toiletten und Lagerflächen im Inneren des Bunkers schaffen. Und noch eine Idee für die Nutzung des Bunkers ist im Gespräch: Das Museum „Berlin-Story“ könnte dort einziehen.

Viel zu tun: An diesen Stellen entlang der Oranienburger Straße wird derzeit oder künftig gebaut.
Viel zu tun: An diesen Stellen entlang der Oranienburger Straße wird derzeit oder künftig gebaut.

© Bartel

Alles auf Anfang beim Tacheles

Aber welche Berlin-Story soll hier erzählt werden? Jetzt, da selbst das Tacheles, die Mutter aller Berliner Kunstruinen, nicht mal mehr künstliche Kunstruine ist? An den Zäunen, die das einstige Kaufhaus vor einer neuerlichen Besetzung schützen, gehen die meisten achtlos vorbei. Ab und an bleibt ein Tourist stehen, schaut ratlos abwechselnd aufs Smartphone und das geräumte Kunsthaus. Vor zwei Jahren war das Gebäude zur Zwangsversteigerung ausgerufen worden: Alle 16 Grundstücke mit einem Verkehrswert von zusammen rund 35,1 Millionen Euro – Investoren würden Gerüchten zufolge heute um die 200 Millionen Euro bezahlen. Der Termin platzte. Ein neuer ist nicht in Sicht.

Vor kurzem urteilte das Landgericht in einem Streit zwischen einigen der vielen, die Ansprüche auf die Brache erheben. Es ging darum, ob ein Schreiben ordentlich zugestellt war oder nicht. Wenn es um ganz große Summen geht, wird so mancher plötzlich kleinlich. Eine Einigung zwischen der HSH-Nordbank, die Millionen fordert, mit einer Firma aus dem Einflussbereich der Familie von Fonds- und Finanzunternehmer Jagdfeld und mit dem Insolvenzverwalter ist nicht in Sicht. Immerhin ist die Akte nach dem Streit um die Zustellung wieder beim Amtsgericht. Wann die Richter dort einen neuen Termin aufrufen, ist offen.

Offen ist auch, wann die Oranienburger wieder eine Zukunft zu erzählen hat, die Vergangenes vergessen macht.

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