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Berlin: Ein Traum von Stadt

Acht Jahre schon arbeitet Jason Lutes an einem Comic-Fortsetzungsroman über Berlin. Weil es den ersten Band jetzt auf Deutsch gibt, war der US-Künstler in der Stadt – und erstaunt, wie ähnlich sie seinen Bildern ist

Wie oft er über diese Kreuzung schon nachgedacht hat. Alte Stadtpläne und Bücher hat er gewälzt in seinem Atelier in Seattle, um ja nichts auszulassen auf seinen Zeichnungen. Jede Häuserfassade, jede Straßenbahnschiene und jedes Detail des Ampelhäuschens hat er studiert, bis er wusste, wie es in jener fremden Stadt vor 75 Jahren ausgesehen hat. Und nun steht Jason Lutes an diesem kalten Märztag zum ersten Mal auf dem Potsdamer Platz, schaut hoch zum nachgebauten historischen Ampelhäuschen und findet es „einfach verrückt“, hier zu sein.

Jason Lutes ist Comic-Zeichner. In seinen schwarz-weißen Tuschezeichnungen hat er die Hauptstadt in den „wilden 20ern“ festgehalten. „Berlin“ heißt die Fortsetzungsgeschichte, die er vor acht Jahren begann. Da war er noch nie in Deutschland gewesen. Inspiriert haben ihn das Buch „Berlin Alexanderplatz“, Fotos von August Sander und Kunstbände von Berliner Künstlern jener Zeit. Vergangene Woche nun war es soweit: Der 36-Jährige war in Berlin. Es sei, „als spaziere man durch seinen eigenen Traum“, sagt er. Anlass ist eine Ausstellung mit Lutes-Originalen bei Dussmann, die bis Monatsende gezeigt wird. Eingeladen hatte ihn der Carlsen-Verlag, der die ersten acht Kapitel von Lutes’ monumentalem Comic-Epos „Berlin – Steinerne Stadt“ auf Deutsch veröffentlicht hat. Mit einem bemerkenswerten Erfolg: Die erste Auflage ist beinahe ausverkauft.

Die sechs Tage, die der Zeichner jetzt in Berlin verbracht hat, waren ein kostbares Geschenk für ihn. „Ich will so viel sehen wie möglich“, erzählt Lutes bei einer Kaffeepause im Sony Center. Nach fünf Tagen schmerzen seine Füße vom vielen Laufen, er ist erschöpft, aber seine Euphorie bremst das nicht. Also kurze Pause – und dann weiter. „Ich will keine Zeit verlieren“, sagt Lutes beim Spaziergang rund um den S-Bahnhof Potsdamer Platz. An diesem Platz lässt der Autor seine schwarz-weiße Sinfonie der Großstadt im September 1928 beginnen. Im historischen Potsdamer Bahnhof (der im Krieg zerstört wurde) kommen die Hauptfiguren der Geschichte, der Journalist Kurt Severing und die Kunststudentin Marthe Müller, in Berlin an und erleben Kapitel für Kapitel, wie die Weimarer Republik zerfällt und die Nationalsozialisten an Macht gewinnen.

„Unglaublich, wie sich der Potsdamer Platz verändert hat und trotzdem wiederzuerkennen ist“, sagt Lutes. Die nachgebaute historische Ampel hat’s ihm angetan. „Dies war die erste Ampel im ganzen Land, und drumherum war mehr Verkehr als an jeder anderen Kreuzung in Deutschland – das ist doch faszinierend!“ Zuvor war er stundenlang durch die Straßen rund um den Barbarassoplatz gelaufen. In dem früheren Literatenviertel hat Lutes’ die Wohnung seiner Romanfigur Kurt Severing angesiedelt, in der Freisinger Straße. „Das war ein wunderschönes Gefühl, die echte Straße zu sehen und zu merken, dass die Fassaden und sogar die Bäume zum Teil immer noch so aussehen wie in meinem Buch“, sagt Lutes.

Wieso gerade ein Zeichner aus Seattle die Endphase der Weimarer Republik aufarbeitet? Ein junger Mann, dessen Großmutter zwar aus Deutschland stammte, der sich für das Land bis vor einigen Jahren aber kaum interessierte? „Eine impulsive Entscheidung“, sagt Lutes. Mitte der 90er war es, da hatte er seinen sehr persönlichen Comicroman „Narren“ abgeschlossen und war auf der Suche nach einem allgemeineren Thema, nach etwas, das ihm den Zugang zu einem anderen Land verschaffen könnte. Da fiel ihm ein Buch über das alte Berlin in die Hand. „Diese Zeit ist unglaublich reich an Geschichten, die zu erzählen sich lohnt.“ Das Berlin der 20er erschien ihm als „einzigartiger Schnittpunkt von Politik, Kultur, Gesellschaft“, aus denen man viel Allgemeingültiges ableiten kann. „Mich interessiert, welche Folgen Politik für den Alltag hat. Man kann am Beispiel des Berlins jener Jahre beschreiben, wie ein Ereignis das andere bedingt und nichts wirklich unvermeidlich ist.“

Beim Marsch Richtung Brandenburger Tor sagt er, „diese Begegnung mit der Realität“ sei ein „Energiestoß“ für die Arbeit an seinem Mammutprojekt. Bis 2010 wird es dauern, bis er das 24. und letzte Kapitel fertig gezeichnet hat, sagt Lutes. Jedes Kapitel hat 24 Seiten, alle sechs Monate will er eine Folge abschließen. Seit dem Erfolg des Buches in Deutschland und in Frankreich kann Lutes von der Arbeit an „Berlin“ leben und muss nicht mehr andere Jobs nebenbei machen.

Von seinem Besuch wird er noch lange zehren, sagt Lutes. In seinem Reisekoffer steckt die praktische Ausbeute der vergangenen Tage: zahllose Berlin-Fotos und Skizzen historischer Stadtpläne, Bücher mit Alltagsfotos und Innenaufnahmen von Wohnungen der zwanziger Jahre. Außerdem jede Menge Ratschläge von seinem Cousin Jonathan, der vor kurzem aus den USA nach Berlin gezogen ist. Der hat ihm in seiner Weddinger Wohnung erklärt, wie ein echt Berliner Kohleofen funktioniert. Auch das wird sich bestimmt bald in einem Kapitel von „Berlin“ wiederfinden.

Die Ausstellung mit Originalzeichnungen von Jason Lutes und den historischen Vorlagen ist bis 31. März bei Dussmann in der Friedrichstraße zu sehen. Täglich außer Sonntags 10 bis 22 Uhr. Der Comic „Berlin“, erschienen im Verlag Carlsen Comic, hat 211 Seiten und kostet 14 Euro.

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