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Berlin: Eine Frau für viele Fälle

Sie machen Hausbesuche, vor allem bei den Alten, sie bringen Pillen, machen Bluttests oder misten den Medikamentenschrank aus. In Brandenburg, wo der Ärztemangel am schlimmsten ist, wird die Gemeindeschwester erprobt. Ein Tag mit Schwester Cornelia

Manchmal sind sie alle alt, und manchmal stehen sie schon an der Anmeldung Schlange, mit ihren kranken Herzen, Nerven, Rücken, Füßen. Manchmal ist das Wartezimmer voll, lange bevor die Sonne aufgeht, und es kann dauern, bis ihre Krankenakte die nächste ist.

Das kennt Kunigunde Lierka gut. Sie hat dort oft gesessen in den vergangenen Jahren und gewartet und gelitten, schlimme Stunden lang. Sie ist Mitte 80.

Irgendwo kräht ein Hahn, als Schwester Cornelia letzte Informationen in den Laptop tippt. Sie hockt dabei neben ihrem Auto, das sie vor Kunigunde Lierkas Haus geparkt hat. Ein Trecker fährt vorbei. Es ist eine kleine ruhige Straße am Rande des Spreewalddorfs Lübbenau. Schwester Cornelia klappt den Laptop zu und packt ihn in die schwarze, schwere Tasche zurück. Dann geht sie ohne Zögern durch das Tor, auf dem „Bissiger Hund“ steht, und auch in das Haus einfach hinein, dessen dunkle Holzwände von der Herbstsonne kaum noch gewärmt werden.

Käme Schwester Cornelia an diesem Tag nicht vorbei, mit ihren kurzen, zügigen Schritten gleich hinten durch zum Wohnzimmer, wo Kunigunde Lierka auf dem Sofa sitzt, groß, weißhaarig und etwas steif, hätte die alte Frau selbst losgemusst. Raus aus den Puschen, raus aus der Strickjacke, raus aus der Wohnung, jemand hätte sie fahren müssen, weil es mit dem Laufen nicht mehr geht. Es wäre eine große Anstrengung geworden. Und das für eine Routineangelegenheit: Es soll geprüft werden, ob die Entwässerungstabletten wirken. „Frau Lierka?“, ruft Schwester Cornelia. „Ich bin’s.“

Cornelia Menzel, 43, blond, fröhlich, patent, gehört zum „Modellprojekt Gemeindeschwester“, das in Brandenburg im Sommer angelaufen ist. Ein Jahr lang unterstützen sie und zwei weitere examinierte Krankenpflegerinnen mit Erfahrung in der Altenpflege sieben Ärzte, deren Praxen zum Medizinischen Zentrum Lübbenau gehören: machen Hausbesuche, überwachen Therapien und helfen vorbeugend. Das bundesweit einmalige Projekt startete 2005 auf der Insel Rügen und wurde in diesem Jahr von der Landesregierung in Potsdam nach Brandenburg geholt, als Reaktion auf die Sorge um die medizinische Versorgung im Flächenland. Die Zahl der niedergelassenen Ärzte sinkt seit Jahren. Schon heute sind im ambulanten Bereich 182 Haus- und 39 Facharztstellen frei. In vier Jahren wird etwa ein Drittel der jetzt noch tätigen Hausärzte in den Ruhestand gehen – und unklar ist, wie viele einen Nachfolger finden. Ob die Gemeindeschwestern diese Situation erfolgreich entspannen und zur Dauereinrichtung werden können, soll eine wissenschaftliche Auswertung ergeben.

Für Kunigunde Lierka steht das Urteil schon fest. Sie freut sich auf die Besuche von Schwester Cornelia. Die weiß Bescheid, hat die Ruhe, Erfahrung und Zeit.

Als Schwester Cornelia das erste Mal bei ihr war, in dem großen Wohnzimmer, in dem auch ein schmales Bett steht und eine Schrankwand voller Fotos der Kinder und Enkel, der Hochzeiten und Babys, hat sie anderthalb Stunden lang Fragen gestellt: Was Frau Lierka noch allein kann, wann sie Gehhilfen benutzt, was schwerfällt und wann. Anderthalb Stunden lang immer noch eine Frage. Ein Arzt hätte in der Zeit gut sechs Patienten behandelt.

Schwester Cornelia hat Puls und Blutdruck gemessen, nun will sie die alte Frau wiegen. Neben der Schrankwand steht eine Elektrowaage. Zum Aufstehen zieht Kunigunde Lierka einen Beistelltisch ans Sofa. Langsam zieht sie sich hoch, bebend vor Anstrengung, dann greift sie zu den Krücken. Schwester Cornelia hat sie beobachtet, bereit zu helfen. Die Patientin steht. Sie ächzt. Sie stellt einen Fuß auf die Waage. Den anderen bekommt sie nicht hoch. Das Bein ist seit einem Schlaganfall steif. Jetzt scheint es zentnerschwer an ihrer Hüfte zu hängen. Noch ein Anlauf. Es klappt. Schwester Cornelia stützt sie. 64 Kilogramm. Weniger als letztes Mal. Gut. Die Pillen helfen.

Abgekämpft fällt Frau Lierka zurück in ihr Sofa und erholt sich, während Schwester Cornelia das Gewicht in den Computer eingibt. Kunigunde Lierka kennt die Gemeindeschwester noch aus DDR-Zeiten. Damals waren die fahrenden Schwestern in fast jedem Ort unterwegs. Mit Motorroller statt Pkw und ohne Laptop. Eine Fernsehserie namens „Schwester Agnes“ bezeugte ihre Beliebtheit. Mit der Wende wurde diese Form der Gesundheitspflege abgeschafft. Dass sie nun wiederkehrt, wird durchaus mit Genugtuung gesehen. Cornelia Menzel ist für das Projekt nach Jahren in Berlin zurückgekehrt in den Spreewald, wo sie aufgewachsen ist, wo ihre Eltern noch leben, wo nahezu jeder jeden kennt. Unter den Patienten finden sich Eltern und Großeltern ihrer ehemaligen Klassenkameraden. „Ach Cornelia, ja, das ist ja schön!“, hört sie oft. Sie sagt, dass viele ihrer Patienten einfache Menschen seien, die viel gearbeitet haben und nur ungern krank und hilflos sind. Manches Mal sei ihnen Besuch unangenehm, weil sie ihre Häuser nicht mehr in Schuss halten können. Den Staub, die Spinnweben nicht mehr sehen.

Die Tage der Gemeindeschwestern beginnen früh. Gegen halb sieben holen sie sich die Krankenakten aus den Praxen und fahren los. Termine haben sie vorab gemacht. Zwei Patienten vormittags, zwei nachmittags. Sie machen auch Sturzprophylaxe; suchen nach Stolperfallen in den Wohnungen, beraten bei der Schuhwahl, oder sie machen Blutzuckertests oder Medikamentenkontrolle. Dann gehen sie mit den Patienten deren Apothekenschränke durch. Entsorgen abgelaufene Arzneien, das dauere manchmal Tage, sagt Schwester Cornelia, weil die alten Leute seit Jahren Reste aufbewahren. Wenn sie Blut- oder Urinproben nehmen, bringen sie die gleich ins Labor des Medizinischen Zentrums. Was sie am Computer eintragen, schreiben sie später handschriftlich in die Akten, damit die Ärzte im Bilde sind. Welche Aufgaben genau die Ärzte an die Schwestern delegieren, entscheiden die Mediziner. Die Laptops sollen noch mit Videoprogrammen ausgestattet werden, sodass die Patienten per Computer mit dem Arzt in der Praxis konferieren können, aber das funktioniert derzeit nicht. Ohnehin lobten die meisten Patienten – nach der Anfangsphase soll jede Schwester 40 bis 50 betreuen – am meisten, dass jemand zu ihnen kommt.

Der zweite Termin führt Cornelia Menzel ins Lagunendorf Lehde. Noch im Herbst spazieren hier viele Touristen herum, staunen über die Häuser, die man nur zu Fuß erreichen kann, die über schmale Holzbrücken miteinander verbunden sind. Hier kann man nicht Auto fahren. Hier muss Schwester Cornelia ihre Tasche weit tragen.

„Kommen Sie schnell“, ruft Karl Koal und kommt auf das Gatter zugelaufen. „Sie ist so aufgeregt.“ Seine Frau sitzt im Rollstuhl und schluchzt. Nach einem Sturz hat sie Angst vor dem Laufen, Angst, dass sie wieder fällt. Dem Mann mag sie nicht klagen, der dränge sie nur, endlich aufzustehen. Aber sie könne doch nicht! Schwester Cornelia zieht sich einen Stuhl ran und tätschelt Ilse Koal die Hand. „Ach, Frau Koal, ärgern Sie sich doch nicht“, sagt sie. „Er meint es doch nicht so.“ Sie fragt nach der Krankengymnastik, fragt, ob Frau Koal auch ihre Kräftigungsübungen regelmäßig mache. Selber helfen darf sie ihr nicht. Das wäre ein Übergriff in die Zuständigkeiten anderer Pflegedienste. Es gibt durchaus Konkurrenzängste, die Schwester Cornelia zerstreuen will. Die Gemeindeschwestern nehmen nur den Ärzten Arbeit ab. Ilse Koal verspricht sie, auf dem Rückweg zum Auto beim Sohn der Familie vorbeizugucken und den aufzufordern, mit der Mutter laufen zu üben. Der Mann sieht durch die Glasscheibe, dass die Frau sich beruhigt. Er nickt Schwester Cornelia zu und reckt den Daumen hoch. Da lacht sie.

Als sie zurückkommt nach Lübbenau, ist die Sprechzeit im Ärztezentrum vorbei, Anne Lore Bahr steht am Tresen ihres Vorzimmers und unterschreibt Rezepte. Bahr ist eine der sieben Ärzte aus dem Modellprojekt. Schwester Cornelia erzählt ihr von den Koals und dass die Entwässerungstabletten bei Frau Lierka wirken. Die Ärztin nickt und unterschreibt weiter. Eine „enorme Entlastung“ nennt sie die Gemeindeschwestern. Auch für ihr Gewissen. Denn ohne Schwester Cornelia hätten auch Kunigunde Lierka und Ilse Koal in die Praxis kommen müssen. Kommen und warten. Vielleicht stundenlang.

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