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Die Faultier-Skulptur wird an der Aussenfassade des Kindermuseums ANOHA angebracht und soll dort bleiben.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Eine moderne Arche Noah: Warum ein Faultier an der Fassade des Jüdischen Museums Berlin klettert

Mit 150 Tierskulpturen feiert das Kindermuseum Anoha im Jüdischen Museum die Vielfalt der Schöpfung. Mit dabei: Fauli, ein Faultier aus Fahrrad-Schutzblechen.

Im Stadtbild Berlins taucht, passend zur Adventszeit, ein konsumfaules Klettertier auf – ein Faultier, um genau zu sein – und streckt seinen Kopf neugierigen Blickes einer besseren Zukunft entgegen.

Das Kindermuseum Anoha des Jüdischen Museums ist coronabedingt noch bis Anfang 2021 geschlossen. Einen Vorgeschmack auf sein Thema gewährt ab jetzt schon der Blick auf seine Fassade.

Die Krallenspannweite des Faultiers misst vier Meter. „Es handelt sich um ein Dreifinger-Faultier“ erklärt Beate Kelm, die Künstlerin.

Es gibt nämlich auch Zweifinger-Faultiere, wobei die Bezeichnung laut Wikipedia missverständlich ist, denn auch die tragen zumindest an den Füßen noch die rezente dritte Kralle. Im Regenwaldgeäst scheint die dritte keine Vorteile zu bringen, in der Stadt möglicherweise schon.

Das Riesenfaultier ist eine von 150 Tierskulpturen, mit denen das Jüdische Museum fortan die Vielfalt zelebriert – 150 Tiere aus verschiedensten Materialien von 13 unterschiedlichen Künstlern, die doch ein homogenes Ganzes ergeben.

Das Museum als Arche Noah

Das Museum als „moderne Arche Noah“, erklärt die künstlerische Leiterin des Projekts, Anne Metzen. Der pädagogische Auftrag des Jüdischen Museums sehe vor, Kinder für die Vielfalt in jedem Sinne zu sensibilisieren und zu zeigen, dass es sich lohnt, die Reibungen, die zwischen Fremden entstehen können, auszuhalten. Weil eine bunte Welt einfach eine bessere ist.

Im Gegensatz zur antiken Fassung sind die Tiere hier entsprechend nicht nur paarweise vertreten, sondern spiegeln schon die unterschiedlichen Formen des Zusammenlebens wieder, die heute üblich sind, erklärt Metzen.

Intern heißt das Faultier übrigens Fauli. Ein Arbeitstitel, nicht offiziell, und nur denjenigen vorbehalten, die sich die Finger an ihm abgearbeitet und schmutzig gemacht haben.

Die Künstlertruppe um Beate Kelm mit Felix Scharstier und Luca Grabo (v.r.n.l) haben sich das Faultier ausgedacht und gebaut.
Die Künstlertruppe um Beate Kelm mit Felix Scharstier und Luca Grabo (v.r.n.l) haben sich das Faultier ausgedacht und gebaut.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

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Faulis an seinen urbanen Lebensraum adaptiertes Fell besteht aus 500 bis 600 gebrauchten und weggeworfenen Fahrrad-Schutzblechen. Und der Weg vom Cycling zum Upcycling war ein schmutziger: „Was da an Dreck an den Schutzblechen hing! Ganz schlimme Sachen,“ sagt Kelm. Und dass es ein sehr sinnlicher Prozess gewesen sei, damit zu arbeiten. Auch alte Oldtimer-Bleche seien darunter gewesen, von denen jedes eine Geschichte erzählt.

Als das Fahrrad vor über einem Jahrhundert in hiesigen Landregionen seinen ersten Boom erlebte, explodierte mit ihm geradezu der Genpool, da auch die Reichweite von Menschen plötzlich um ein Vielfaches anwuchs. Und förderte, wenn man so will, die Vielfalt.

Mobilität und Nachhaltigkeit

„Es geht natürlich auch um Mobilität und Schnelligkeit gepaart mit Nachhaltigkeit. Der Reiz ist, das Faultier, das seinem Klischee nach eigentlich für das genaue Gegenteil steht, damit zu verbinden,“ ergänzt Claudia Weidemann vom Planungsbüro Kubix.

Für die Film- und Theaterplastikerin Kelm und für viele andere der beteiligten Künstler war das Projekt ein Anker in Coronazeiten, in denen die Filmbranche und alle Bühnen brach lagen.

„Schon Anfang Mai haben wir begonnen, Schutzbleche zu sammeln,“ erzählt Kelm, „über Ebay, verschiedene Fahrradwerkstätten. Allein von der Werkstatt am Künstlerhaus Bethanien bekamen wir etwa 150 Stück.“

Das Faultier besteht aus Fahrrad-Schutzblechen, die über mehrere Monate gesammelt und geputzt wurden.
Das Faultier besteht aus Fahrrad-Schutzblechen, die über mehrere Monate gesammelt und geputzt wurden.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

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Auch das Brandenburger Umland habe sich als Fundgrube in Sachen Schutzblech erwiesen. Somit ist das Material nicht nur recycelt, sondern auch regional gewonnen und damit noch nachhaltiger. „Aber eigentlich handelt es sich gar nicht um Schutzbleche, sondern um Borsten,“ korrigiert sie. Die Idee sei schließlich gewesen, eine Borstenstruktur zu schaffen und nicht irgendwas mit Schutzblechen zu machen.

„Und von den Borsten, die dem echten Faultier Schutz bieten, kamen wir auf die Schutzbleche, die optisch wie symbolisch passen. Sie verhalten sich bockig und eigenwillig, verleihen dem Tier eine Note Widerborstigkeit, müssen aufwendig in Form gestriegelt werden.“

Ein Plädoyer für das Kindsein

Und natürlich sei das Interessante daran dies: Aus dem Gebrauchten, das man sonst wegschmeißt, etwas Neues zu schaffen. Die Schutzbleche sind als solche erkennbar, stehen aber in einem ganz anderen Kontext, in dem sie etwas ganz anderes sind.

„Das ist eine sinnliche und schöne Erfahrung, die hoffentlich die Kinder motiviert, das, was sie sowieso tun, nämlich in Gegenständen mehr als den ursprünglichen Zweck zu sehen, beizubehalten. Zu schätzen, was man hat, statt alles Alte wegzuwerfen. Und fast nebenbei nachhaltig zu handeln."Kindlich ist allerdings nur die Außenwirkung des leichtfüßig daherkommenden Projektes. Allein an den Tieren sei bereits über zwei Jahre lang gearbeitet worden, erzählt Kelm.

Felix Scharstier, Luca Grabo und Beate Kelm (v.l.n.r.). Das Faultier wird an der Fassade des Kindermuseums angebracht.
Felix Scharstier, Luca Grabo und Beate Kelm (v.l.n.r.). Das Faultier wird an der Fassade des Kindermuseums angebracht.

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Die Ausschreibung des Jüdischen Museums für den Bau des Kindermuseums hatten die in Seattle ansässigen Architekten Olson & Kundig mit ihrem Entwurf der Arche mit Tieren gewonnen. Schon in diesem Entwurf war das Faultier erstmals aufgetaucht. Die US-Architekten beauftragten ihrerseits das in Berlin ansässige Büro „Iglhaut+ von Grothe“, das wiederum das Planungsbüro Kubix mit der Umsetzung beauftragte. Die meisten Entscheidungen entlang des Realisierungsprozesses wurden so im Dialog mit allen Beteiligten getroffen, zusammen mit dem jüdischen Museum und den einzelnen Künstlern.

Das widerborstige Faultier überstand alle Planungsphasen und soll sich zuletzt gegen ein Huhn durchgesetzt haben, das alternativ den Vorplatz des Museums hätte zieren können. Entscheidend war vermutlich die Eignung des Faultiers für eine Fassadenmontage – zu hoch also, um von spielenden Kindern erklommen zu werden und womöglich eine Verletzungsgefahr darzustellen.

Durch die schiere Größe, gepaart mit der Komplexität seiner Form und den vielen verschiedenen Radien, die die Schutzbleche an seiner Oberfläche annehmen mussten, war es auch skulptural eine Herausforderung. Nur mit räumlichem Vorstellungsvermögen wäre es in dieser Form nicht zu realisieren gewesen, erklärt Felix Scharstein, Konstrukteur kinetischer Kunstmaschinen und hier Cheftechniker. Aufwendige, dreidimensionale Modelle mussten erstellt und maßstabsgetreu übertragen, die komplexe Aluminium-Unterkonstruktion und die Aufhängung der Bleche von Statikern berechnet werden.

Das Museum als immersive Spielwiese

Schließlich handelt es sich hier nicht um eine vorübergehende Ausstellung, sondern um einen integralen Bestandteil der musealen Arche Noah. Ihre Innenraumkonstruktion aus langen, gebogenen Holzplanken, mutet tatsächlich wie ein Schiffsbauch an, der den Skulpturen den alttestamentarischen Kontext verleiht. Sie sollen die Geschichte der Arche Noah erzählen, ihre Ideen zeitgemäß interpretieren und vermitteln. Und zwar weitgehend ohne Erklärtafeln, sondern – der Zielgruppe der drei bis zehnjährigen Kinder entsprechend – spielerisch.

Anne Metzen hofft, dass das immersive Konzept des Museums in der Welt Nachahmung findet. Und dass die Archengeschichte die Kinder animiert, über unser Zusammenleben nachzudenken. Aus seiner Schutzblechrüstung, die den Regenwaldbewohner an die urbane Landschaft anpasst, schaut Fauli optimistisch in die Zukunft. Und das nicht etwa schlapp hängend, sondern in dynamischer Pose, als wäre es auf dem Sprung, ganz entgegen jedem Faultierklischee. Als wolle es zeigen, dass man mit Vorurteilen nicht weit kommt.

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