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Berlin: Eine Stadt, zwei Welten

Keiner stimmte bei der Wahl ’98 so durchschnittlich wie die Rudower. Ein Viertel in Oberspree lag am weitesten daneben. Warum?

So sieht er also aus, der Ausschnitt fürs Ganze, die Ecke in Rudow für die gesamte Republik. Rasensprenger zischen in den Gärten, vor einem Haus putzen Gänse hinter gestutzten Hecken ihre Federn, daneben Männer ihre Autos. „Na, heute so schick frisiert?“, grüßt eine Radfahrerin ihre Nachbarin. „Stop! Achtung Kinder!“, steht in bunten Kreidebuchstaben auf dem Asphalt. Der Ausschnitt, ein Klischee. Sollte der Wahlbezirk 621 wirklich für den Rest der Republik stehen, ist die Welt in Deutschland noch in Ordnung. 466 Wähler leben im Rudower Karree zwischen Köpenicker Straße, Im Bauernbusch und Neudecker Weg. Und bei der letzten Bundestagswahl haben 621er so etwas wie eine Punktlandung bewerkstelligt; sie wählten fast genau wie das gesamte deutsche Volk: 41,4 Prozent votierten für die SPD (40,9 bundesweit), 34,9 Prozent CDU (35,1), 4,1 Prozent PDS (5,1), 6,7 Prozent Grüne (6,7) und 5,2 Prozent FDP (6,2).

Es lässt sich leben im Wahlbezirk 621. Arbeit gibt es zwischen den Einfamilien- und Reihenhäusern fast nur für den Mann im Zeitungsladen. Dass seine Kunden Berliner Rekorde geschrieben haben, ist dem Verkäufer neu. Er zieht seine Schlüsse zur politischen Gesinnung eher aus der Kaufneigung der Stammkunden. Die meisten sind, wie man sagt, im besten Alter. Die Kinder längst erwachsen, das Haus abbezahlt. „Das Kaufverhalten ist eher rechtslastig“, sagt der Zeitungsmann und zeigt auf hohe Stapel bunter Blätter. Naja, die Kommentare seiner Kunden ähnelten sich ohnehin seit Jahren: Da ändert sich eh nichts! Die reden doch bloß!

Das Wahlergebnis fiele im Bezirk 621 vermutlich anders aus, verteilten sich zwischen den Einfamilienhäusern nicht noch drei Neubausiedlungen. Mit jungen Eltern, vielen Kindern. „Bei uns kommen auf rund 30 Wohnungen etwa 50 Kinder“, sagt Monika Galgon, jung, blond, Buggy schiebend. Und wählen die da in der Siedlung grün? Schwarz? Frau Galgon winkt ab. „Eher SPD“, sagt sie. Dass sich bei dieser Wahl daran viel ändert, glaubt sie nicht.

Der Weg zur Kolonie „Neues Heim“ führt vorbei an parkenden Autos: ein Golf, ein Polo, Golf, Ford, Golf, Golf, dazwischen ein Campingswagen. In den Kleingärten des „Neuen Heims“ ließe sich kaum jemand hinreißen, den Nachbarn als Rasenmäher-Nazi zu diffamieren; hier kennt man, duzt man sich und eröffnet den Stammtisch am Gartenzaun. „Ich wähle immer, was für mein Portemonnaie gut ist“, sagt Winfred Fuchs, Mitglied der Nachbarschaftsinitiative „Bioreizkraftwerk Rudow“, die sich gegen das geplante Biomassekraftwerk nebenan wehrt. Von den Politikertugenden hat Fuchs keine hohe Meinung: „Charakterlos muss man sein, vergesslich und immer die Hände aufhalten.“

„Haste schon mal ’nen CDUler gesehen, der zurückgetreten ist“, fragt Laubennachbar Alfred Biallas. „SPDler ooch nich.“ – „Klar, jede Menge.“ – „Ach, hör uff.“

Wahlkampf am Gartenzaun. In aller Freundschaft. Katja Füchsel

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