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Berlin: Einheit mit Eigenheiten

Berliner aus Ost und West haben sich längst angenähert – aber viele Unterschiede sind geblieben

Neulich haben sie mal wieder die Mauer aufgebaut, Kopenhagener Straße/Ecke Sonnenburger Straße in Prenzlauer Berg. Für einen neuen Mauer-trennt-Liebende-Film von Dominik Graf. Stacheldraht, zugemauerte Fenster, Betonsteine. Sah beklemmend realistisch aus, aber die Leute haben sich nur amüsiert, weil ja alles aus Pappe war.

Die Mauer, eine lustige Requisite aus der absurden deutschen Geschichte. Könnte man meinen. Stimmt aber nicht. Die Mauer ist zwar vor 15 Jahren gefallen, aber noch lang nicht überwunden. Beim Händeschütteln ersteht sie jeden Tag neu, in der Küche oder auf dem Spielplatz. Es folgt eine schwarze Liste erledigt geglaubter Ost-West-Gegensätze.

Die Stau-Mauer . Aus der Perspektive eines Polizeihubschraubers wird es offenbar. Der werktägliche Stau im Osten beginnt früher als im Westen. Das liegt daran, dass Ost-Betriebe nach alter Tradition früher mit der Arbeit beginnen. In gemischten Belegschaften mit Gleitzeit-Regelung sind die Ostler früh um sieben meistens unter sich.

Die Psycho-Mauer. Ostler gehen seltener zum Psychiater. Depressionen können sich gar nicht verfestigen, weil man sich den Alltagsfrust bei Freunden und Kollegen von der Seele quatscht. Die ostdeutsche Psyche sei entgegen aller Jammer-Ossi-Polemik robuster als die westdeutsche, haben Ärzte der TU Dresden herausgefunden. Vielleicht liegt es aber auch am geringeren Bekanntheitsgrad von Woody-Allen-Filmen im Osten. Im Berliner Branchenbuch sind unter „Psychoanalyse“ 14 Mediziner eingetragen, nur einer davon praktiziert im Osten.

Die Impf-Mauer. Die Betriebskrankenkassen haben herausgefunden, dass Ost-Eltern ihre Kinder häufiger gegen die gängigen Kinderkrankheiten impfen als West-Eltern. In der DDR war das Schlucken diverser Impf-Cocktails Pflicht. Die pharmakritische Naturheilmedizin gab es praktisch nur im Westen.

Die Küchen-Mauer. Während der Osten in der Verbreitung von Mikrowellen mit dem Westen gleichgezogen hat (rund 60 Prozent aller Haushalte), liegt er bei Wäschetrocknern (40 Prozent im Westen, 20 Prozent im Osten) und Geschirrspülmaschinen (60 Prozent im Westen, 46 Prozent im Osten) weiter klar hinten. Doch der ostdeutsche Aufholprozess in der Küchentechnik ist nicht zu stoppen.

Die Sprach-Mauer. Sehr pikant ist das Kapitel Sprache und Sprachvermittlung. Kaisers betitelt jeden Laden im Ostteil der Stadt groß mit einen Schild „Verbrauchermarkt“. Vergebens – denn der Ostler sagt immer noch gerne „Kaufhalle“ zum Supermarkt und bezeichnet bestimmte Vorgänge als „urst-geil“ oder „urstschau“. Ältere Ost-Semester benutzen gelegentlich die Wendung: „Da habe ich eine Freundschaft.“ Nicht wegzukriegen sind die Nasalschwächen im Französischen: „Sankssussi“ statt Sanssouci oder „Angaschmang“ statt Engagement. Dass so etwas fürchterlich an die westlichen Ohrnerven geht, wissen Ostler oft gar nicht. Bestimmte DDR-Slogans wie „Sport frei“ werden auch von Ostlern nur persiflierend verwendet.

Die Windel-Mauer. Ein ideologisch stark verwurzelter Ost-West-Gegensatz bezieht sich auf die frühkindliche Erziehung. Während auch jüngere Ost-Eltern eine frühe Windelentwöhnung befürworten, neigen West-Eltern in der Windelfrage zum Laisser-faire. Auf dem Spielplatz halten sich Ost-Eltern eher lesend oder plaudernd im Hintergrund, während West-Eltern die Unternehmungen ihrer Kleinsten aktiv unterstützen.

Die Scham-Mauer. Eine Kommunikationstrainerin-Ost hat in ihren Seminaren beobachtet, dass es Ostlern eher Probleme macht, vor Publikum zu reden. Auch die Scheu, Heimatdialekt zu sprechen, ist im Osten verbreitet. Viele Ossis schämen sich außerdem, Geld für erbrachte Leistungen einzufordern. Dafür bleiben sie bei Computerpannen lockerer, brüllen nicht gleich den Bildschirm an. Forscher nennen das „Chaoskompetenz“.

Die Buch-Mauer. Politisches Denken und Weltanschauung differieren sehr stark in Ost und West. Das lässt sich am Wahlverhalten ablesen oder ganz einfach an den Auslagen der Buchläden. „Vor allem Ost-Autoren und Biografien von DDR-Prominenten gehen gut“, sagt Susanne Beschedsnik von der Thalia-Buchhandlung im Kaufpark Eiche an der Landsberger Allee. Bis vor kurzem gab es hier im Geschäft einen „DDR-Tisch“ mit wieder aufgelegten Kinderbüchern aus realsozialistischer Zeit.

Die Begrüßungs-Mauer. Das ewige Händeschütteln zur Begrüßung von engen Freunden hält sich im Osten hartnäckig. Im Umgang mit West-Bekannten können sich die meisten diesen Reflex aber inzwischen verkneifen.

Die Jugend-Mauer. Die Stadtsoziologin Lena Schulz zur Wiesch von der Humboldt-Uni arbeitet gerade an einem Forschungsprojekt über die Nachwirkungen der Teilung in Berlin. Große Unterschiede hat sie in der Ausgeh-Kultur festgestellt. Jugendliche-West bevorzugen weiterhin Clubs in Schöneberg oder Kreuzberg und sind meistens als Pärchen unterwegs. Im Osten dominiert die Clique an den Kneipentischen. Für ausländische Jugendliche bleibt die Stadt geteilt: im Westen die Türken, im Osten Aussiedler und Vietnamesen. „Die Türken haben Berlin erst nach der Wende als geteilte Stadt wahrgenommen“, sagt Lena Schulz zur Wiesch.

Die Klischee-Mauer. Gängige Ost-West-

Ressentiments und die entsprechenden Klischees seien zumindest unter Akademikern inzwischen überwunden, glaubten die Stadtsoziologen an der Humboldt-Universität. Bei Befragungen unter Studenten ergab sich jedoch ein völlig anderes Bild. „Es halten sich Stereotypen wie: Alle Wessis sind arrogant und alle Ossis sind Fleischfresser“, sagt Lena Schulz zur Wiesch. Die Soziologin glaubt inzwischen, dass der Palast der Republik nicht mehr abgerissen wird – schlicht deshalb, weil er für das Selbstwertgefühl der Ostler enorm wichtig ist. Fällt der Palast, werden seine Zeitzeugen irgendwie zu Märtyrern und das Projekt innere Einheit kann als gescheitert abgehakt werden.

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