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Berlin: Eiskalt vergnügt

Die einen stapften heroisch nach draußen, die anderen gingen lieber ins Kaufhaus

„Die klare Luft ist ja so gesund“, machte sich gestern Mittag Familie Zimmer aus Braunschweig Mut. „Wir halten das durch.“ Rund 40 Minuten Wartezeit vorm Reichstag lagen vor ihnen, ein Glühweinverkäufer kam gerade recht. „Der müsste hier auch Wollmützen und lange Unterhosen verkaufen.“ Rund 120 Wartende standen in der Reihe, sonst sind es gut dreimal so viel. Viele hatten keine Mützen auf, wie die Zimmers, etliche drehten enttäuscht wieder ab. „Warum machen sie bei der Eiseskälte nicht eine Ausnahme und lassen die Leute drinnen warten?“, fragte ein Spanier. Bibbern für einen Besuch der Reichstagskuppel wollte er seiner Familie nicht zumuten.

Deutlich leerer als sonst an Sonnentagen war es nicht nur vorm Reichstag, auch in der Stadt, den Wäldern und im Tiergarten, der im Sonnenlicht wie eine verzauberte Schneelandschaft wirkte. Das Spazierengehen auf den glatten Wegen war der reinste Eiertanz. Auf den Seen wurde aber fleißig Schlittschuh gelaufen.

Recht voll, als ob minus zehn bis zwölf Grad gar nichts Außergewöhnliches wären, zeigte sich der Trödelmarkt an der Straße des 17. Juni. Da hatten sich zum Beispiel Renate Stüwe und ihre Freundin Marianne Plamper aus Rügen eingefunden, um dick vermummt bei einem Teller Erbsensuppe ein Loblied auf das Wetter zu singen. „Es ist wunderschön“, schwärmte die Rüganerin, so eine erfrischende Kälte kenne sie sonst „wegen der warmen Ostsee“ gar nicht. Die Menschen verweichlichten immer mehr, dabei gebe Kälte doch Kraft und mache widerstandsfähig. Die Freundin meinte, wer sich vor Kälte fürchte, habe keine Beziehung zur Natur. „Wir müssen einfach das Beste daraus machen.“ Solch einen schönen Wintertag nicht im Freien zu verbringen, sei verlorene Zeit.

Die einen zog es nach draußen, die anderen nach drinnen. „Bei der Eiseskälte gehe ich doch nicht raus, sondern lieber zum Einkaufen – im Warmen. Das Wetter ist dafür ideal“, sagte Andrea Hütter aus Schwante. Nachher wolle sie noch ins Kino. Mit Tausenden anderen gehörten sie und ihre Familie zu den Kunden in den Potsdamer-Platz-Arkaden, die wie andere Einkaufszentren zum verkaufsoffenen Sonntag geladen hatten. In den Arkaden war es 30 Grad wärmer als draußen, einige jüngere Frauen zogen schnell die Wintersachen aus und liefen bauchfrei herum.

Auch der Supermarkt am Hansaplatz hatte geöffnet, und vor seiner Tür hockte „Eddy“ in der Kälte. Bot sich an, Kunden Einkaufstüten nach Hause zu tragen. Lausig kalt draußen, sagte er. Fünf Stunden hält er das aus. Derzeit ist er froh, eine Unterkunft zu haben – bei einem Kumpel, nicht im Bahnhof. U-Bahnhöfe sind derzeit für Obdachlose geöffnet. Das Angebot wird kaum wahrgenommen.C. v. L.

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