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Eiswetter: Wunder einer Wintermacht

Im November gab es den ersten Schnee, seitdem regieren Eis und Kälte in Berlin. Zeit für eine 100-Tage-Bilanz.

Die da oben machen zwar sowieso, was sie wollen, aber unsereins darf sich zumindest darüber aufregen – oder freuen, je nachdem. Kurz nach der 100-Tage-Bilanz von Schwarz-Gelb steht jetzt auch die von Weiß-Grau an: Seit Mitte November regiert der Winter in Berlin. Eine Kraft, die viele bei uns im Norden schon so gut wie abgeschrieben hatten, hat die Macht über die Stadt übernommen und gibt sie noch immer nicht her. Jetzt, da die Schonfrist vorbei ist, wird abgerechnet.

WIRTSCHAFT

Während die Bauindustrie seit Monaten frostbedingt darnieder liegt, profitieren Unfallchirurgen vom meteorologischen Wachstumsbeschleunigungsprogramm. Das umfasste nach Auskunft des Wetterdienstes Meteogroup bisher (seit 1950, gemessen in Dahlem) unerreichte 73 Zentimeter Neuschnee. Größter Posten waren die 15 Zentimeter am 30. Dezember. Dieses Konjunkturpaket für Winterartikelverkäufer kam zu plötzlich, so dass bereitstehende Gelder nicht komplett abgerufen werden konnten: Schlitten und Winterreifen sind seit Wochen ausverkauft. Hinzu kommt ein riesiges Handelsbilanzdefizit wegen enormer Streusalzimporte. Der Winter hat also einzelnen Branchen geholfen, aber auf Kosten künftiger Jahreszeiten gewirtschaftet.

GESUNDHEIT

Unter Weiß-Grau hat sich die Luftqualität in der Hauptstadt stark verschlechtert: Austauscharme Wetterlagen trieben die Feinstaubwerte hoch. Das Jahresbudget von 35 Überschreitungstagen (Grenzwert: 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft) ist an mehreren Berliner Messstellen bereits fast aufgebraucht. Noch viel dramatischer sind jedoch die handfesten, in drei Fällen sogar tödlichen Verletzungen, die nachweislich durch Stürze auf glatten Wegen verursacht wurden.

FINANZEN

Belastungen kommen sowohl auf die öffentliche Hand als auch auf Private zu, weil der kalte Winter die Heizkosten steigen lässt. Die Mehrkosten mancher Privatleute werden durch kältebedingt ausgefallene Shopping-Orgien und Kneipentouren kompensiert. Verlierer der vergangenen Monate sind die Versicherungen: Haftpflichtpolicen werden für Sturzverletzungen in Regress genommen, Kfz-Versicherungen müssen (bundesweit mehr als 230 000) glättebedingte Autounfälle regulieren. Dagegen profitieren die Ordnungsämter: Die Glätte auf Gehwegen hat Tausende Bußgeldbescheide ermöglicht.


ARBEIT

Während private Winterdienste und die Stadtreinigung unter dem stark erhöhten Leistungsdruck ächzen, muss die Gartenbaubranche darben: Ein Baumschnitt ist bei strengem Frost ebenso wenig möglich wie Neupflanzungen. Dafür verspricht das Frühjahr der Branche umso mehr Arbeit, weil garantiert zahlreiche erfrorene Stauden im Stadtgebiet ersetzt werden müssen.

UMWELT

Der zusätzliche Heizenergieverbrauch bedeutet mehr CO2-Ausstoß und verschlechtert die Berliner Klimabilanz entsprechend. Das massenhaft eingesetzte Streusalz schädigt zwar die Straßenbäume, aber überwiegend profitiert die Natur von der Schneedecke, denn die schützt Pflanzen vor extremer Kälte und verbessert die Wasserversorgung zur Wachstumsperiode im Frühjahr.

INNERE SICHERHEIT

Die Bilanz fällt zwiespältig aus. Einerseits gelang Weiß-Grau ein erfolgreiches Sofortprogramm gegen Gehweg-Radelraser. Glättebedingt nahm die Zahl gefährlicher Körperverletzungen von Fußgängern dennoch stark zu. Da seit dem Jahreswechsel laut Meteogroup durchweg mindestens 16 Zentimeter Schnee lagen, sank gleichzeitig die Zahl von Auto- und Gebäudebränden. Außerdem erleichtert der Schnee die Spurensicherung nach Einbrüchen, was der Aufkärungsquote dient.

VERKEHR

Die Erfolge der Berliner Radverkehrsförderung wurden teilweise zunichte gemacht, der Anteil am Gesamtverkehr sank von 13 auf geschätzte 0,13 Prozent. Auch wenn man Radfahren nicht verlernt, ist zu befürchten, dass einige Radler dauerhaft umsteigen – zumal wegen der meist überfüllten kurzen Züge die S-Bahn als Retterin ausfällt. Dennoch sind mehr Menschen auf den Nahverkehr umgestiegen: Vor allem weil die BVG auch unter den neuen Bedingungen zuverlässig fuhr und viele Autos seit dem Jahreswechsel nicht mehr aus den Parklücken kommen.

SPORT

In diesem Bereich versagt Weiß-Grau völlig. Sport im Freien ist wegen Schnee und Kälte (25 komplett frostige Tage allein im Januar) fast unmöglich. Die Probleme betreffen insbesondere Jogger und Radfahrer, aber auch Spaziergänger und sogar Schlittschuhläufer: Die aktuell etwa 30 Zentimeter Eisdicke auf dem Großen Müggelsee (Messung: Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei, IGB) sind wegen rauer Oberfläche und harter Schneedecke nichts wert. Bislang konnten nur Skifahrer profitieren.

BÜRGERRECHTE

Die in Artikel 11 des Grundgesetzes garantierte Freizügigkeit wurde sowohl im direkten als auch im übertragenen Sinne eingeschränkt: Wege sind beschwerlicher geworden, und allzu legere Kleidung – etwa in Form bauchfreier Tops und unbedeckte Köpfe – wird mit Frostbeulen oder Blasenentzündung geahndet. Am 27. Januar war die Bekleidungsregel durch minus 17 Grad Tiefsttemperatur weiter verschärft worden, wurde aber bereits am Tag darauf mit dem Januar-Maximum von plus 2,3 Grad wieder gelockert.

AUSSENDARSTELLUNG

Der Silvestermüll wurde zwar sofort mit einer Schneeschicht kaschiert, aber diese Taktik rächt sich spätestens im März. Hinzu kommt die 16-tägige sonnenlose Phase im Januar als Image-Gau. Nicht zu reden von Farbton und Konsistenz des innerstädtischen Schnees. Als Folge hätte bei der aktuellen Sonntagsfrage der Frühling die absolute Mehrheit sicher.

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