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Berlin: Elendes Ende im Pflegeheim

Nach dem Tod eines 68-jährigen Mannes müssen sich Betreuer und eine Ärztin vor Gericht verantworten

Körpergewicht 35 Kilo, eine klaffende Wunde zwischen Daumen und Zeigefinger und ein Abszess am linken Hoden, aus dem eine große Menge Eiter fließt. Als Wolfgang K. ins Kreuzberger Vivantes-Klinikum am Urban eingeliefert wurde, hatte er noch wenige Stunden zu leben. Um 13.24 Uhr wurde er gebracht. Wenig später starb K., 68-jährig, nach Auskunft der Rettungsstelle des Krankenhauses an einer Blutvergiftung.

Der Arzt, der K. am 13. August 2003 untersucht hatte, stellte fest, dass der Patient schwer vernachlässigt war. Obwohl er seit zwei Monaten in einem Kreuzberger Pflegeheim untergebracht gewesen sei. Ab morgen stehen deshalb die Pflegedienstleiterin, die Wohnbereichsleiterin und die Hausärztin des Heims vor Gericht. Die Berliner Staatsanwaltschaft hat Romy A., 50, Susanne K., 27, und Dr. Iris-Kristina K., 45, angeklagt; der Vorwurf: fahrlässige Körperverletzung. Die Staatsanwälte werfen den drei Frauen vor, K. nicht ordnungsgemäß behandelt beziehungsweise gepflegt zu haben. Weder die Angeklagten noch deren Anwälte wollen nach Auskunft des Gerichts vor Prozessbeginn zu dieser Angelegenheit Stellung nehmen.

Dadurch, dass ein Patient gestorben ist, mag der Fall besonders krass erscheinen. „Es handelt sich aber keineswegs um einen Einzelfall“, sagt Michael de Ridder. Er leitet die Rettungsstelle des Klinikums. Er hat den Fall angezeigt. „Es passiert häufig, dass lebensbedrohlich vernachlässigte ältere Patienten zu uns kommen.“ Eine entsprechende Statistik führt das Krankenhaus nicht. Doch de Ridder schätzt, dass seine Rettungsstelle im Monat zwei solcher Patienten behandelt. „Und etwa jeder Zweite dieser Menschen ist bis zum Zeitpunkt seiner Einlieferung in pflegerischer Obhut gewesen.“ Wie Alma S., 79 Jahre alt, als sie ins Urban-Klinikum eingeliefert wurde. Die Nachbarn hatten die Feuerwehr alarmiert, es rieche so komisch im Treppenhaus. Die Ärzte fanden den Grund heraus: eine von den Lendenwirbeln bis zu den Kniekehlen reichende, übel riechende geschwürige Kraterlandschaft. An deren Grund waren mehrere Wirbel sichtbar. Diagnose: verjauchender Dekubitus, Sepsis im Finalstadium, Therapie: aussichtslos. Auch Alma S. starb, obwohl sie zu Hause betreut wurde.

Gleichgültigkeit und Vernachlässigung durch Pflegedienste und Ärzteschaft, sagt de Ridder, gehörten längst zum Alltag. Das gelte vor allem für die sozial schwachen Bezirke in der Stadt.

Michael Meyer, Leiter der Heimaufsicht in der Senatsverwaltung für Soziales, spricht von „unglücklichen Einzelfällen“. Eine Statistik, die Aufschluss über die tatsächliche Häufigkeit und Schwere von Pflegemängeln gebe, sei ihm nicht bekannt. Allerdings sagt auch er, er sei „sicher, dass es eine nicht unerhebliche Dunkelziffer von gravierenden Vernachlässigungen gibt“. Dass die von de Ridder bezifferte Häufung auch für die Notaufnahmen anderer Kliniken gelten könnte, will Meyer nicht ausschließen.

Einen Ausweg weiß aber auch er nicht. „Das Problem ist, dass solche Fälle selten gemeldet werden. Und dass sich oft nur schwer nachweisen lässt, ob wirklich ein Pflegefehler der Grund für eine Erkrankung oder den Tod ist.“ Auch de Ridder sagt das. Dementsprechend selten landen solche Fälle vor Gericht.

Marc Neller

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