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Berlin: Eleonore Liedtke, geb. 1931

Dass sie alleine lebte, wussten viele. Dass sie einsam war, haben die meisten nur geahnt.

Dass sie alleine lebte, wussten viele. Dass sie einsam war, haben die meisten nur geahnt. Doch wie einsam Eleonore Liedtke tatsächlich gewesen ist, konnten die, denen sie begegnet ist, sich nicht wirklich vorstellen. Weil ihr die Kraft für ein Leben fehlte, lebte sie zwei. Eins für die Öffentlichkeit und eins so privat, dass niemand einen Blick hineinwerfen durfte. Eleonore Liedtkes Leben und ihr Tod waren gleichermaßen tragisch. Sie starb wie sie gelebt hatte: alleine unter vielen Menschen. Am 2. Dezember 2000 fand man die 69-Jährige tot am Ausgang des S-Bahnhofs Friedrichshain.

Im Nachhinein lässt sich rekonstruieren, dass sie wohl auf dem Weg nach Bernau zu einer Veranstaltung in der dortigen Kirchen-Gemeinde war. Es war ihr letzter Weg.

Ihr erster begann 1931. Eleonore Liedtke wurde als Tochter eines Ministerialbeamten in Berlin geboren. Sie wuchs auf in den damals neu gebauten Siedlungshäusern der Ceciliengärten. Hier wohnte sie ihr Leben lang, pflegte ihren Vater bis zu dessen Tod.

Mit über 30 Jahren konvertierte sie zum Katholizismus. Fortan gehörte sie zu den Aktivsten in der Gemeinde. Eleonore Liedtke war im katholischen Berlin über ihre Gemeinde hinaus bekannt. Sie besuchte jede größere Veranstaltung der Diözese. Vor allem, wenn klerikale Prominenz zu erwarten war, fehlte sie nie. Ab und zu hielt sie selbst Vorträge, deren Kompetenz auch in wissenschaftlichen Kreisen Eindruck machte. Auch beruflich war sie mit der Kirche verbunden. 30 Jahre lang - bis zum Umzug der Katholisch-Pädagogischen Akademie - arbeitete sie als Leiterin der Bibliothek in der Westendallee. Nebenher engagierte sie sich im Diözesan-Geschichtsverein.

Ein umtriebiges Leben. Eins mit vielen Kontakten zu Menschen - aber ohne Freunde. Übereifrig erschien sie den einen, andere stieß sie mit ihrer spröden, manchmal verletzenden Art vor den Kopf. "In der Gemeinde", sagt Pfarrer Hans-Jürgen Lischka, "gab es etliche Anstrengungen einen etwas engeren Kontakt zu ihr aufzubauen. Doch Frau Liedtke blockierte jeden Versuch sich mit ihr anzufreunden." Sie wollte keine engen Beziehungen. Kein Mensch lässt sich finden, der jemals einen Schritt in ihre Wohnung getan hat. Die ganze Tragik dieses Lebens offenbarte sich jedoch erst nach ihrem Tod.

Abgeschottet hatte sie ihr Privatleben ganz offensichtlich nicht nur aus Eigenbrödelei und Starrsinn - wie manch einer vermutete - sondern auch aus Not. Sie, die noch im November in der Gemeinde einen eindringlichen Vortrag über die Patientenverfügung und die Notwendigkeit ordentlicher Testamente gehalten hatte, schaffte es nicht, Ordnung in ihr eigenes Leben zu bringen. Sie übernahm Verpflichtungen in der Pfarrei und war in deren Einhaltung so zuverlässig und penibel, dass man in der Gemeinde schon am 3. Dezember - sie hatte Lesungsdienst, den sie niemals ohne Grund verpasst hätte - besorgt nach ihr fragte.

Als Pfarrer Lischka am 8. Dezember von der Feuerwehr die Wohnungstür aufbrechen ließ, war Eleonore Liedtke nicht da. Doch alle die einen Blick in die Wohnung werfen konnten, wussten, warum Eleonore Liedtke, nie Besuch empfangen hatte. "Doch", so sagt der Pfarrer, "mir war schlagartig vieles klar. Eine solche Wohnung über und über vollgestopft, habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen. In dieser Wohnung konnte man eigentlich gar nicht leben."

Eleonore Liedtke konnte sich nicht von Dingen trennen. Ob sie tatsächlich ein richtiger Messi war - so nennt man Menschen, die unter dem Zwang leiden, absolut nichts wegwerfen zu können - lässt sich im Nachhinein nicht mehr feststellen. Die Systematik, mit der sie alle Leute von sich fern hielt, deutet jedoch darauf hin.

Es erklärt auch den Umstand, dass eine wie sie, die so viele Menschen in der Stadt kannte, allein und einsam starb. Als sie am 2. Dezember gefunden wurde, hatte Eleonore Liedtke ihren Ausweis in der Tasche. Weder ein Testament noch Geld oder Sparbücher konnten gefunden werden - möglicherweise lag das am Zustand der Wohnung. Eine Nachlasspflegerin wurde bestellt.

Sie handelte zügig - zu zügig? Als die Gemeinde sechs Tage nach Eleonore Liedtkes Tod aktiv wurde, war die Katholikin bereits eingeäschert. "Eine Einäscherung", sagt Pfarrer Lischka "hat sich Frau Liedtke, eine äußerst konservative, sehr gläubige Frau, sicher nicht gewünscht."

Ursula Engel

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