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Epilepsie: Verordnete Normalität

Epilepsien gehören bei Kindern und Jugendlichen zu den häufigen Erkrankungen. Die Anfälle treffen die Menschen mit unterschiedlicher Intensität. Patienten haben aber nicht nur mit den Krämpfen und lebensbedrohlichen Unfällen zu kämpfen. Sie müssen sich auch um jedes Stück Alltag bemühen

Die kleine Lea Fink* liebte, es in der Badewanne zu tauchen und dabei Blubber-Geräusche im Wasser zu machen. „Doch eines Tages blubberte es anders“, sagt ihre Mutter Andrea*. Leas Kopf lag unter Wasser. Sie hatte das Bewusstsein verloren. „Das ging sehr schnell, ich war zum Glück mit im Bad.“ Nachdem sie ihr Kind aus dem Wasser gezogen hatte, kam Lea schnell wieder zu sich. Lea leidet an Epilepsie und hatte einen Anfall. Seitdem muss sie immer beim Baden singen, damit die Mutter sofort hört, wenn etwas nicht stimmt. Das „nervt“, findet die Achtjährige.

Das menschliche Gehirn besteht aus einer komplexen Vernetzung von 100 Milliarden Nervenzellen, die auch Neuronen genannt werden. Sie kommunizieren über elektrische Impulse miteinander. Bei einem epileptischen Anfall entladen sich die Nervenzellen fast gleichzeitig. Während wir im Alltag nur vier Prozent unseres Gehirns benutzen, wird bei einem Anfall das gesamte Denkorgan in Anspruch genommen. „Jedoch ohne sinnvolles Resultat“, sagt Axel Panzer. Panzer ist ein auf Neurologie spezialisierter Kinderarzt und Leiter des Epilepsiezentrums im DRKKlinikum Westend.

Ein epileptischer Anfall kann sich sehr unterschiedlich äußern. Einige Kinder sind nur für wenige Sekunden abwesend – Mediziner nennen das Absencen. Andere erleiden minutenlange Bewusstseinsstörungen und Muskulaturkrämpfe, Grand Mal genannt. Bei jedem Anfall verbraucht das Gehirn viel Energie. Deshalb ist der Erkrankte nach einem Anfall meist matt und müde. „Das eigentliche Risiko sind Verletzungen während des Anfalls“, sagt der Kinderneurologe Panzer.

Bei der schlimmsten Form, dem Status Epilepticus, können aber auch die Neuronen dauerhaft geschädigt werden. Der Erkrankte erleidet dabei viele Anfälle hintereinander oder der Anfall hört gar nicht mehr auf. Nur ein starkes Antiepileptikum kann den Krampf beenden.

Auch Lea Fink bekommt immer wieder epileptische Anfälle. Oft kündigen sie sich vorher mit einer sogenannten Aura an: Dann verspürt sie ein Vibrieren im Mund, „als ob man summt“. Oder es „hagelt im Ohr“. Beim epileptischen Anfall ist sie zwar bei Bewusstsein, kann aber nur schwer auf andere Menschen reagieren. Nur selten wird sie richtig ohnmächtig. „Ein sicheres Zeichen, dass Lea einen Anfall hatte, sind Kopfschmerzen“, sagt ihre Mutter. „Und Streifen vor den Augen, Bildstörungen“ ergänzt Lea. Auch das Hören und Sprechen fällt ihr nach einem Anfall minutenlang schwer.

Eine Epilepsie zu diagnostizieren, ist nicht leicht. Deshalb steht Panzer neben fünf spezialisierten Kinderärzten auch die Radiologie des Klinikums – für die Aufnahme der Gehirnstrukturen mit der Magnetresonanztomografie – und ein Labor, in dem Blutwerte oder Stoffwechselstörungen untersucht werden, zur Seite. Psychologen kümmern sich um die Wahl der geeigneten Schule und überwachen die geistige Entwicklung des Kindes.

Kommen Eltern mit ihrem Kind zu Axel Panzer, dann fragt er als Erstes, was passiert ist. Oft sind auch Videoaufnahmen der Eltern hilfreich. Gibt es Hinweise auf eine Epilepsie, zeichnen die Neuropädiater die Hirnströme des Kindes mit einem Hirnstrommessgerät (EEG) auf. „Die Hirnströme des Menschen sind so einzigartig wie der Fingerabdruck“, sagt Panzer. Um krankhafte Muster zu erkennen, müsse man wissen, wie die gesunden Hirnströme aussehen.

Auch Lea musste einmal einen ganzen Tag lang im Krankenhaus bleiben. „Gut daran ist, dass das Essen ans Bett gebracht wird“, sagt die Achtjährige. Eine Kamera filmt sie, während das EEG aufgezeichnet wird, denn die Bilder liefern wichtige Anhaltspunkte über die betroffene Hirnregion. Strampeln und stampfen mit den Beinen ist beispielsweise ein Indiz für einen fokalen – also eng begrenzten – Epilepsieherd im Frontallappen. Auch die Atmung, Sauerstoffsättigung des Blutes und die Herzfrequenzen werden beobachtet und aufgezeichnet. Erleidet das Kind während der Erstbegutachtung jedoch keinen Anfall, warten die Mediziner meist erst einmal ab.

Als Lea vor fünf Jahren zu Panzer kam, litt sie häufig unter Anfällen. Um diese zu unterdrücken, schluckt sie jeden Tag morgens und abends „zwei dicke, eine halbe und eine viertel Tablette“. Seitdem kommen die Anfälle seltener.

Wenn die Medikamente wirken, müsse man über chirurgische Eingriffe, wie die Entnahme des betroffenen Gehirnteils, dann nicht weiter nachdenken, sagt Panzer. Viel zu riskant. Ohnehin sind chirurgische Eingriffe meist nur bei fokalen Epilepsien möglich, bei den sich der Krampfanfall nur in einem kleinen, begrenzten Areal des Hirns ereignet und nicht wie bei der generalisierten Epilepsie das gesamte Gehirn betrifft (siehe Text unten).

Auch eine sogenannte ketogene Diät, bei der die Kinder kaum Kohlenhydrate, sondern Fett und Eiweiß zu sich nehmen müssen, ist dann nicht nötig. Zwar kann mit ihrer Hilfe die Menge der eingenommenen Medikamente verringert werden, dafür greift die Diät stark in den Alltag ein. In der Schule bekommen die Kinder ein anderes Essen als ihre Mitschüler und mit ihren Freunden können sie nicht einfach mal so ein Eis essen gehen.

Wie lästig das sein kann, zeigte auch der erste Kontakt Axel Panzers mit einem Mädchen, das gerade mit der Behandlung begonnen hat. Die Zwölfjährige lehnte es ab, mit dem Arzt zu sprechen. Lange brauchte Axel Panzer, bis er ihr vier Worte abringen konnte: „Die Krankheit ist scheiße!“

Das kennzeichnet die Arbeit eines Neuropädiaters. Oft geraten nicht nur die Hirnströme aus dem Gleichgewicht, sondern auch das Selbstvertrauen der Patienten. Panzer nennt das die „Kränkung durch die Erkrankung“. Unerwartet werden die Kinder aus der Normalität des Alltags gerissen. Und manche, wie die Zwölfjährige, lehnen sich dagegen auf. Daher ist es ein Ziel Panzers, den Kindern „ihren Alltag zurückzugeben“.

Das ist die Aufgabe des Epilepsiezentrums des DRK-Klinikums Westend. Die Wände sind mit Schabernack treibenden gelben Mäusen, blauen Hasen und pinken Füchsen bemalt. Eine Epilepsie-Fachschwester ist hier Ansprechpartnerin für alle. Sie ist nicht nur medizinisch geschult, sondern kümmert sich auch um die alltäglichen Probleme der Eltern. „Die Pädiatrie ist eben eine sehr fürsorgliche Medizin“, sagt Panzer.

Das sah Leas Mutter, als sie Panzer kennenlernte, noch ganz anders. „Er fragte uns, welches Medikament wir ihr geben sollen. Dabei war er der Mediziner!“ Doch niemand kenne ein Kind besser als dessen Eltern, entgegnet Axel Panzer. Heute ist Leas Mutter sehr dankbar: „Man kann die Verantwortung nicht einfach beim Doktor abgeben.“ Ob das Kind ein Medikament im Alltag gut verträgt, müssen auch Vater und Mutter beurteilen.

Doch die Eltern müssen auch lernen loszulassen. „Am Anfang habe ich Lea regelrecht bewacht“, sagt ihre Mutter. Sie saß nächtelang im Krankenhaus neben dem Bett der damals Dreijährigen. Immer wenn das Blutdruckmessgerät Alarm schlug, schreckte die Mutter hoch – alle 15 Minuten. Für Zuhause gab man ihr keinen Blutdruckmesser. Seien Sie froh, sagte ihr eine Schwester. Dann haben Sie mehr Ruhe. Doch auch das brachte nicht mehr Ruhe: Die Mutter nahm nachts Lea mit zu sich ins Bett.

Erst Axel Panzer verordnete Normalität. Lea schlief wieder im eigenen Zimmer. Zuerst schaute ihre Mutter mehrmals in der Nacht nach ihr. „Doch irgendwann kannst du nicht mehr und lässt los.“

Mittlerweile ist ein ganzes Stück Alltag in Leas Leben eingekehrt. Manchmal mehr, als Panzer recht ist. „Das Lea Akrobatik auf dem Rücken eines Pferdes ohne Helm macht, hat ihm gar nicht gefallen“, sagt die Mutter schmunzelnd.

Das Kind hat sich gut entwickelt, sagt Panzer. „Das Schöne am Heranwachsen ist, dass oft auch die Epilepsie verschwindet.“ Und für Lea Fink lässt die Prognose hoffen: „Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass Lea bis zur Pubertät anfallfrei wird.“ Das erzwungene Konzert im Bad ist dann wohl endgültig vorbei.

*Namen geändert

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