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Berlin: Eppendorfer Kartenspiel

In entspannt alberner Urlaubslaune kaufte ich mir in einem Antiquitätenladen der Georgenstraße eine Ansichtskarte von Berlin, die vor 99 Jahren nach Eppendorf in Sachsen geschickt wurde. Wohlgemerkt in Sachsen, nahe Chemnitz!

In entspannt alberner Urlaubslaune kaufte ich mir in einem Antiquitätenladen der Georgenstraße eine Ansichtskarte von Berlin, die vor 99 Jahren nach Eppendorf in Sachsen geschickt wurde. Wohlgemerkt in Sachsen, nahe Chemnitz! Mit kalligraphischem FederSchwung ist sie an Herrn Oswald Kaufmann adressiert. Mir ist die deutsche Schrift so geläufig wie die lateinische. Und so konnte ich die wenigen Zeilen lesen: Unseren lieben Freunden senden wir aus der Ferne die herzlichsten Grüße, hoffend, daß alles gesund und munter ist. Auf Wiedersehen Paul u. Thekla Lernhardt. Was an diesen Zeilchen denn dran sei, wollen Sie wissen? Zweierlei: Ferne und Auf Wiedersehen. Das soll mir ein Eppendorfer Kartenspiel werden.

Aber zunächst eine kleine Beschreibung der Ansicht. Es ist ein Abschnitt der Friedrichstraße. Im Vordergrund das Kaiser Hotel, daneben ein Geschäft von Gustav Baum, dessen Handelsgut mir erst das Stadtadressbuch von 1903 verriet: Gustav Baum, Lederwarenhandlung, Friedrichstraße 175. Im Hintergrund ist mit der Lupe die Brücke am Bahnhof Friedrichstraße schwach zu erkennen. Viele Menschen, seltsamerweise alles Männer. Männer mit Hüten, Männer mit Mützen, kein Kopf unbedeckt. Dabei ist’s Sommer, was an den ausgerollten Markisen zu erkennen ist. Kutschen und Pferdeomnibusse. Solche Bilder und handschriftliche Botschaften aus längst verstrichener Zeit – hier sind’s 99 Jahre – mit längst dahingegangenen Menschen sind für mich zurückgelassene Lebenszeichen, in die ich mich vertiefe. Ich mische mich also unter die Menschen auf der Friedrichstraße, ob sie nun Hüte, Schiffer- oder Schiebermützen tragen, schaue mir die Auslagen in den Geschäften an, plaudere mit dem Laternenputzer, dann auch dem Droschkenkutscher vorm Hotel und gedenke des Freundes Oswald Kaufmann im fernen sächsischen Eppendorf. Und sage zu meiner Thekla: Thekla, sage ich, wir wollen unseren Freunden in der Ferne eine Karte schicken. Thekla will aber erst noch ein paar Besorgungen machen, bei Baum nach Handschuhen sehen. Derweil verfüge ich mich mit einer Ansichtskarte ins Kaiser Hotel, wo Federhalter und Tinte in einem kleinen Schreibkabinett zur Hand sind.Thekla unterschreibt übrigens mit ihrem neuen silbernen Drehbleistift, einem Geschenk zur Silbernen Hochzeit. Mit einer Sechsermarke auf die Karte: Ab geht die Post. Und eines noch fernen Tages, in 99 Jahren, wird sie aus Eppendorf nach Berlin zurückflattern und zum Kauf in einem Laden nahe der Friedrichstraße aushängen. Ein gutgelaunter Urlauber wird sie dann kaufen. So erwachte ich aus meinem geträumten Gastspiel in zeitlich weit-weiter Ferne und beschloss, Pauls und Theklas Verheißung eines Wiedersehens zu erfüllen, indem ich die Postkarte noch einmal nach Eppendorf bringe. Nur mal so.

Ich löste eine Fahrkarte nach Chemnitz. Abfahrt von Bahnhof Zoo 13 Uhr. Von dort nach Eppendorf mit dem Bus. Es geht durch eine schöne Landschaft des darin reichen Sachsenlandes. Wir querten Flüsse wie die Lößnitz und die Flöha. Und es regnete gewaltig. Ankunft in Eppendorf 17 Uhr 15. Der letzte Bus zurück nach Chemnitz fährt 17 Uhr 25. Menschen von planloser Augenblickslaune stehen dann im Regen. Ich spielte meine Karte aus, legte sie kurz aufs Eppendorfer Regenpflaster, nahm sie aber wieder mit. Anderntags rief ich in der Gemeindeverwaltung von Eppendorf an, erzählte von meinem Kartenspiel, erfuhr, dass Eppendorf ja auch mit Spielzeug zu tun hat, mit Puppenstubenbau zum Beispiel, hörte von Drechslern und Schnitzern.

Wie man sich nun seine Geschichten drechselt oder schnitzt. Aufs Material kommt’s an, den Stoff – auch eine 99 Jahre alte Ansichtskarte, wenn sie beschrieben wurde; denn da waren Hände im Spiel, die uns etwas geben.

99 ZEILEN SCHWERK

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