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Berlin: Erhard Otto Müller (Geb. 1955)

„Mit hundert bin ich dann Bundespräsident.“

Er rief auch spät noch von unterwegs an. „Hallo, hier ist EO. Kann ich heute bei dir pennen?“

Klar konnte er. Auf sein privates Netzwerk war Verlass. Und es war eng geknüpft. Fünf Geschwister und eine unüberschaubare Menge an Basisgruppenkontakten. Hotels mochte EO weniger. Zu unpersönlich. Und überhaupt nicht solidarisch. Wenn der Mensch müde ist, besitzt er das unveräußerliche Recht auf eine Schlafstatt. Das ist schon in der Bibel bezeugt. Und so würde es vielleicht wieder sein in der Welt von morgen, die EO in großen systematischen Entwürfen in der „Frankfurter Rundschau“ skizzierte. Er war ein Visionär der alten Schule, einer, der unbeirrbar an der Vervollkommnung seiner Gedankenexperimente arbeitete – unabhängig von den Klimaschwankungen des Volksempfindens.

Sein Weg verlief immer quer zur politischen Hauptströmung, von der „Liga gegen den Imperialismus“, in die Friedens-, Anti-Atomkraft- und Ökologiebewegung, hinein in die Grüne Partei und später in die Arbeitskreise für eine nachhaltige Lebensweise, für eine Zukunft der Arbeit und für mehr bürgerschaftliches Engagement. „Wenn die Grünen an der Regierung sind, werde ich Verteidigungsminister“, sagte er seinem Neffen, wenn der wissen wollte, was sein Onkel eigentlich so treibt. „Ich arbeite bis 95. Mit hundert bin ich dann Bundespräsident.“

Einer wie EO macht aber keine politische Karriere.

Im Sprecherrat der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden der Grünen Partei eckt EO so lange an, bis er nicht mehr gewählt wird. Er fordert, den Stachel der Rüstungskritik auch in den Osten zu richten, gegen den Warschauer Pakt. Als dann die Mauer fällt, reist er gleich in den Osten, zu den Bürgerrechtlern. Er soll zwischen Ost- und West-Opposition vermitteln, Vorurteile ausräumen und Denkkulturen annähern. Das kann er wie sonst keiner. Wenn alle noch diskutieren, sich in Details verbeißen, um Formulierungen feilschen, tippt EO schon den Text für ein gemeinsames Papier in den Computer. Wenn die Stimmung zu kippen droht, Gegensätze unüberwindbar scheinen, setzt sich EO ans Klavier und singt ein altes Arbeiterlied, zitiert Tucholsky und Mühsam. Oder Passagen aus dem lehrreichen Kinderhörspiel: „Lok 1414 geht auf Urlaub“.

So gelingt schließlich die Fusion von „Bündnis 90 / Die Grünen“.

Aber EO ist kein Politiker. Er glaubt an die Macht des runden Tisches, an den hierarchiefreien Diskurs und die Überzeugungskraft des gedruckten Wortes. In einer Welt, die auf charismatische Führer setzt, bleibt er ein Außenseiter.

EO wächst auf dem Wittekindshof in Bad Oeynhausen auf, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Sein Vater ist dort Diakon und Krankenpfleger. EO lernt zu singen und zu diskutieren. Der Vater engagiert sich in der Friedensbewegung, die älteren Brüder nehmen EO mit auf Demonstrationen.

Als kleiner Junge schrieb EO der Mutter eines Freundes einen Zettel: „Wir sind im Wald. Hab’ keine Angst. Wir haben ein Messer dabei.“

Die Brüder verweigern den Wehrdienst, selbstverständlich. EO geht zum Bund. Er will den Gegner kennenlernen. Beim Dienst an der Waffe verheddert sich Rekrut Müller regelmäßig in der Gewehrmechanik. Am Wochenende klebt er Plakate für den kommunistischen Jugendverband, wird erwischt, bekommt wieder mal Stubenarrest. Die Bundeswehr gibt die Hoffnung schließlich auf; wegen „psychisch verminderter Belastbarkeit“ wird das Dienstverhältnis beendet.

EO als kleines Rädchen in einem großen Räderwerk – das erzeugt binnen kurzer Zeit einen Getriebeschaden.

EO ist ein politischer Solist, der in vielen Orchestern mitspielt, solange es keinen Dirigenten gibt. Bei ihm hat die Posaune das gleiche Gewicht wie die Erste Geige. Jeder soll mitentscheiden in der Politik, dann kann sich nachher keiner beschweren. Niemand kann sagen, er habe das alles nicht gewollt.

EO fährt kein Auto, lebt in einer kleinen Wohnung, trägt die Haare kurz. Er sagt, es gehe nicht um ihn. Wenn er krank ist, schluckt er Antibiotika. Heftige Kopfschmerzen plagen ihn. Auch dagegen nimmt er Tabletten. Er wehrt sich gegen das Müdesein.

Hut und Schal sind seine Markenzeichen. EO mag Menschen, die ihre Lebensfreude nach außen tragen. Er fotografiert Tänzer auf dem Karneval der Kulturen. Auf der Burg Borl in Slowenien beobachtet er Menschen mit der Kamera. Es sind Jugendliche aus den Staaten Ex-Jugoslawiens, die hier eine Zeitlang zusammen sind, um den Hass ihrer Väter zu vergessen. EO hat die Begegnungen mitorganisiert.

Wenn sich freie Zeit ergibt, schreibt EO an seinem politischen Manifest. Es wird ein dickes Buch. Darin erklärt er, warum die Aufklärung gescheitert ist und eine neue Kraftquelle erschlossen werden muss, um die Menschen zur Vernunft zu bringen. Die Gesellschaft brauche ein „spirituelles Fundament“, ein „Umwelt-Unterbewusstsein“.

Er kann das Buch nicht vollenden. In Riga, bei einer Konferenz für Nichtregierungsorganisationen aus den Ostseestaaten, trifft ihn der Schlag. Thomas Loy

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