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Berlin: Erika Dickert (Geb. 1913)

Schafft sie nicht alles, was sie sich vornimmt, hat sie ein schlechtes Gewissen

Von Julia Prosinger

Sie feierte ihren Geburtstag neun Mal in einem Jahr. Schließlich konnte sie kaum verlangen, dass sich die Schöneberger Nachbarn mit den Senioren aus der Apostel-Paulus-Gemeinde verstünden. Dass die Freunde, die gern essen und trinken, mit den Damen aus der CDU gemeinsame Themen fänden. Und zwei, die gern monologisieren, die eine über linke, die andere über rechte Ideen, müssten ja nicht unbedingt aufeinanderprallen.

So feierte Erika Dickert in getrennten Runden, in manchen Sommern lud sie von Juni bis August in ihr Stübchen, tippelte zwischen den Gästen umher mit selbst gebackenem Zitronen- und Nusskuchen, nun greifen Sie doch zu!

Am Tippelgang war ihr Arbeitgeber schuld, ein Hautarzt. Drei Sprechstundenhilfen hätte seine Praxis gebraucht, es war nur Erika Dickert da. Die rannte zur Tür‚ wenn es klingelte, schon rief der Doktor, die Patienten warteten auf Rezepte. Schwester Erika gewöhnte sich kleine, schnelle Schritte an.

Sie gewöhnte sich auch einen empfindlichen Magen an. Mittags aß sie nichts, keine Zeit für ihre Leibspeisen, für Eierkuchen, Pudding und Blattsalat mit üppig Zucker. In den Pausen verteilte sie das Gemeindeblatt. Die preußische Disziplin hatte der Vater ihr vererbt.

1913 war Erika Dickert in Westfalen als Tochter eines Chemikers und einer Lehrerin geboren worden. Es war genug Geld da für neun Kinder, für hübsche Matrosenkleidchen und Schnürstiefel. Rechtzeitig, um vom zweiten Weltkrieg nicht ganz so viel mitzubekommen, zog die Familie auf die Ostseeinsel Fehmarn. Erika wurde Krankenschwester.

Wie sie so fromm wurde – darüber scherzten ihre Schwestern gern –, weiß man nicht. Nur, dass sie 1945 nach Berlin zieht, auf der Suche nach einer Aufgabe. Für das Rote Kreuz birgt sie Tote aus den Trümmern und während ihre Schwestern auf der Insel wohlhabend heiraten, schleppt sie Schutt und Bombensplitter aus der Apostel-Paulus-Kirche, hilft bei den Gottesdiensten, unterstützt den Pfarrer bei der Sprechstunde. Viele kommen, um zu reden.

Ein Erlebnis jedenfalls macht aus der frommen Erika eine Frau, deren Glaube nicht zu erschüttern war. 1946, sie ist auf dem Heimweg von der schweren Aufbauarbeit, verfolgen sie zwei Russen. Vergewaltigen oder töten werden sie mich, denkt Erika und schreit um Hilfe. Ein altes Ehepaar versteckt sie auf dem Dachboden. Als sie sich hinauswagt, knien die Alten betend vor dem Haus – eine schützende Wand Gottes. Die beiden Russen bekreuzigen sich und ziehen davon.

Mehr als sechs Jahrzehnte tippelt Erika Dickert zu Kranken und Einsamen, zu denen, die Geburtstag hatten, aber keine Kraft mehr in der Gemeinde zu feiern, backt Kuchen für Obdachlose. Die Pfarrer ihrer Kirche kommen und gehen, Pfarrer von Rabenau, Kirchner, Grunow, Noack, zuletzt Pfarrer Daudert.

Schwester Erika bleibt. Wenn sie, trotz der schnellen Schritte, nicht all das schafft, was sie sich morgens auf einem Zettel vornimmt, hat sie abends ein schlechtes Gewissen.

Bei so vollen Tagen hätte ein Mann nur gestört. „Ich kann Männer leiden, aber nur bis hierher“, sagte sie immer und streckte den Arm aus. Ob Männer sie leiden konnten? Sie und ihre genauen Vorstellungen? Alles allein machen wollte sie, gesiezt werden gern, zum Sozialamt wäre sie nie gegangen, einen Spitznamen hätte sie nie gehabt. Im Krankenhaus brachte sie einmal die Zimmernachbarin zum Weinen: Licht aus, Fernseher aus, nun schlafen Sie doch! Die Kinder in der Gemeinde fürchteten sich ein wenig vor der strengen, großen Dame mit dem schwarzen Haar, immer im Nacken geknotet.

Ihre Schwestern auf Fehmarn besuchte Erika Dickert regelmäßig, aber nur kurz. Die Gemeinde sei ihre Familie, sagte sie dann. Sie werde gebraucht. Erika Dickert versäumte ungern etwas. Einmal nur sah man sie tanzen, einmal nur gelöst. Kaum je einen Schluck Alkohol trinken. Das Bundesverdienstkreuz und das Ehrenkreuz der Diakonie lehnte sie ab. Ihr genügte die Anerkennung in der Gemeinde. Sie forderte kürzere Gottesdienste, um mehr Berufstätige in die Kirche zu locken, und den Pfarrer bat sie um engeren Kontakt zu den Gemeindemitgliedern. Viele verehrten sie.

Mit über 90 Jahren las Erika Dickert im Seniorenkreis vor – als Helferin, nicht als Seniorin –, war für die CDU aktiv, stand winters mit der Wollmütze auf dem Bayerischen Platz und machte Wahlkampf, tippelte nachts um elf von den Sitzungen nach Hause. Als es ihr nicht mehr gut ging, kletterte sie nachts einmal aus ihrem Bett. Sie wollte unbedingt zur CDU-Versammlung.

Ein Leben für die Partei, die Kirche und einen kleinen Wunsch: Ihre Urlaube verbrachte Erika Dickert stets im Johannesstift, am Rand von Spandau, spendete einen Teil ihrer kleinen Rente. Vor einem Jahr wurde sie dort Pflegepatientin. Sie träumte von einer feierlichen Begrüßung, eine Schwester links, eine rechts, der Chef des Hauses in der Mitte: Schön, dass Sie da sind, Frau Dickert! So kam es nicht. Erika Dickert feierte nicht nur lange Geburtstag, sie feierte auch oft. 100 Jahre wurde sie.Julia Prosinger

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