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Berlin: Erika Kerfack (Geb. 1915)

Sonntags spielte sie Akkordeon im Kino. Und natürlich verliebte sie sich.

I could have danced all night“, trällerte die zarte Dame von höchstens 43 Kilo auf ihrem neunzigsten Geburtstag und warf einen vorwurfsvollen Blick auf die weitaus jüngere Festgesellschaft. Die hing ermattet in den Sesseln, Mitternacht war längst vorüber. Da endlich eilte einer ihrer Klavierschüler, im Hauptberuf Feuerwehrmann, zu Erikas Rettung. Er hob die Jubelnde auf seine Augenhöhe und ließ sie durch die Lüfte sausen.

Dass Leben Bewegung ist, lernte Erika von ihrer ersten Stunde an. Geboren wurde sie auf der Flucht ihrer Eltern während des Ersten Weltkriegs. Ihr eigenwilliges Aussehen, eine weiße Strähne im dicken, schwarzen Haar und verschiedenfarbige Augen, versuchte man zunächst damit zu begründen, dass ihre Mutter während der Schwangerschaft einen Schock erlitten habe. Das hat aber niemanden überzeugt, denn Erikas Charakter wollte zu dieser Theorie so gar nicht passen.

Sie war munter, fordernd und konnte sich für vieles begeistern, am meisten für ihren Vater, einen Hotelbesitzer. Wie ein paar andere Damen auch liebte sie sein Klavierspiel, mit dem er in besonderen Stunden seine Gäste unterhielt.

„Das will ich auch machen“, sagte sie mit sechs Jahren und bekam Klavierstunden. „Und jetzt will ich auf die Musikhochschule nach Königsberg“, sagte sie mit 17. Nach ein paar Belehrungen über die Sittlichkeit entließen die Eltern ihr Kind aus dem kleinen ostpreußischen Treuburg. „Und jetzt muss ich nach Berlin“, sagte Erika im Alter von 21. In Berlin nämlich befand sich das Musikgeschäft Päsold. Ein Name, den Erika sehr aufregend fand, denn er stand für ein sehr modisches Instrument: das Akkordeon.

So sahen die Eltern ihr Mädchen davonziehen, begleitet allein von dem fraglos eleganten Bechstein-Flügel.

Erika bezog eine kleine Wohnung direkt gegenüber der Deutschen Oper. Drei Jahre folgten, die genau so verliefen, wie sie es sich in ihren schönsten Fantasien ausgemalt hatte. Angestellt bei Päsold, wo nicht nur das schicke Instrument, sondern auch Musikstunden angeboten wurden, unterrichtete Erika Klavier und das Akkordeon. Abends besuchte sie Opern, Konzerte und die Tanzpaläste, sonntags spielte sie mit dem Akkordeon-Club in den Matineen der großen Kinos. Und natürlich verliebte sie sich.

Die glücklichen Jahre fanden ihr Ende mit dem Satz: „Ich habe furchtbare Albträume.“ Es war einer der letzten Sätze, die sie ihren Bräutigam sagen hörte, sein letzter Urlaub von der Front. Ein Albtraum war auch, was sie selber durchmachte, zunächst als Musikerin an der Front, später dann, mit dem Sohn auf dem Arm und schwanger mit dem zweiten Kind, herumirrend zwischen Treuburg, Tschechien und Westdeutschland.

Zurück in Berlin fand Erika ihre alte Wohnung wieder – doch die Fassade fehlte. In einer Ecke lag, zusammengebrochen unter Trümmern, ihr Bechstein-Flügel. Die Musik ist aus, schien der Anblick ihr zu sagen. In Wahrheit spielte sie weiter, doch es fehlte die Freude daran. Abend für Abend klemmte Erika das Akkordeon und ein Abendkleid auf den Gepäckträger ihres Fahrrads, nicht selten unter Tränen. Sie hasste es, in den Offizierskasinos und Schieberlokalen zu spielen, aber wer brauchte in dieser Zeit schon eine Musiklehrerin. Und dann starb auch noch ihr Zweitgeborener an einer Herzkrankheit.

Eine kurze Zeit lang hat Erika es noch einmal mit einer Ehe versucht. Doch da versuchte einer, sie auszunutzen als Haushälterin und Geldverdienerin. Dafür, fand Erika, war man seinerzeit nicht nach Berlin gegangen, und dafür hatte man nicht die elende Nazi-Zeit überlebt. Bewunderer fand die Frau mit den verschiedenfarbig blitzenden Augen ohne Mühe, warum sich also quälen, jetzt, da die Zeiten neues Glück versprachen?

„Kindchen, das ist doch alles nicht so schlimm“, sagte Erika später oft zu ihren Musikschülerinnen, wenn die von ihren Sorgen erzählten. So, wie sie das sagte, klangen die Worte nicht oberflächlich, sondern zutiefst tröstlich. Da sprach eine alte Dame mit einer angeborenen Weisheitssträhne im bis zuletzt störrisch- schwarzen Haar, eine Kriegsveteranin, die mit roten Wangen auf dem Klavierhocker saß. Wenn so eine das sagte, dann musste es stimmen.

So wurde Erikas neunzigster Geburtstag eine große Versammlung, viele Schüler hatten über die Jahrzehnte Kontakt mir ihr gehalten, und unter den Mitgliedern des Vereins „Akkordia“ war Erika unbestritten der Star.

Zu ihrer Beerdigung erklang, so wie sie es sich gewünscht hatte: „I could have danced all night, and still have begged for more ...“ Anne Jelena Schulte

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