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Berlin: Erika Nüßle (Geb. 1942)

Was soll der Mensch tun? Was kann er tun?

Ein ganzes Leben lang könnte man sich mit diesen Fragen beschäftigen, allein oder in fiebrigen Debatten, bis allen vom Reden schwindlig ist. Man könnte aber auch schlicht etwas tun. So wie Erika Nüßle. Sie hatte eine Vision, die stets ins Praktische mündete, die sie vor zu viel Theorie beschützte – und die sie mit Anfang 40 nach Nicaragua führte.

1964 wurde „das Fräulein Nüßle“ Personalsachbearbeiterin in der Verwaltung der Max-Planck-Gesellschaft. Aber mit dem Verwaltungsleiter kam sie nicht überein. Ihr hübsches Kostüm und das akkurat frisierte Haar hatten rein gar nichts mit ihren politischen Anschauungen zu tun. Der Verwaltungsleiter, ein SPD-Mitglied, war ihr zu konservativ. Emanzipation, Sozialismus, Revolution, das waren doch nicht nur Worte! Sie bat um Versetzung in ein wissenschaftliches Forschungsprojekt. Die Wissenschaftler mussten doch progressiver sein! Doch die Promovierten und Habilitierten redeten nur und stritten, eine Professur schien ihnen wichtiger zu sein als die Revolution.

Erika wechselte zum „Manpowerprojekt“, das sich mit Arbeitskräftebedarfsforschung befasste und dessen Mitarbeiter ihren politischen Ansprüchen gerechter wurden. Jahre arbeitete sie dort. Bis man sie ungefragt in den neuen Forschungsbereich versetzt, „ABC“ – „Adaptive Behaviour and Cognition“. Immerhin duldete ihr neuer Chef Erikas beharrlich kritisches Nachfragen: „Frau Nüßle ist die Einzige in meinem Bereich, die mir direkt widerspricht.“ Als Forschungstechnische Assistentin schrieb Erika Briefe, buchte Flüge, kümmerte sich um das Personal, nahm aber auch an Straßenbefragungen teil – „Was denken sie, wenn sie das Wort Mammografie hören?“ – oder setzte Babys im Labor Elektroden auf die Köpfchen.

Im Betriebsrat war sie natürlich auch, einige Jahre als dessen Vorsitzende, sie war in der ÖTV und Bezirksverordnete für die Alternative Liste. Gleichberechtigung und Entwicklungspolitik waren ihre Themen. Dem Vorsitzenden der Max- Planck-Gesellschaft widersprach sie coram publico: „Herr Präsident, das stimmt alles nicht, was Sie und ihre Rechtsverdreher sagen.“

Nachdem die AL von den Grünen geschluckt worden war, zog sie sich enttäuscht aus diesem politischen Geschäft zurück. Der revolutionäre Schwung fehlte ihr. Also schaute sie, wo es ihn noch gab – und sah Nicaragua. Die Somoza-Diktatur war gestürzt, die USA versuchten, die neue Regierung zu schwächen. Erika wollte den Sandinistas helfen. Sie sammelte Spenden im Institut, fuhr mit dem Geld nach Nicaragua, half beim Bau von Brunnen und Latrinen, bei der Verlegung von Wasserrohren, gründete Patenschaften mit Kindern. Einen Jungen lud sie nach Berlin ein, bezahlte ihm den Flug, führte ihn durch das Institut, durch die Stadt.

Sie vertrieb nicaraguanischen Kaffee, lagerte die Kartons in ihrem Büro, regelmäßig kamen Mitarbeiter und baten um ein Päckchen. Sie zeigte den Kollegen Fotos aus Nicaragua, auf einem Bild sieht man sie im Gespräch mit Daniel Ortega.

Doch „Il Commandante“ erwies sich schließlich doch nicht als der Held, für den er gehalten wurde, der revolutionäre Elan verschwand auch aus Lateinamerika. Und Erika wandte sich mehr und mehr dem Privaten zu. Sie schloss Freundschaften mit Frauen, eine nicaraguanische Familie richtete in ihrem Haus für Erika ein eigenes Zimmer ein. Oft sprach sie mit den Frauen über die Männer, sagte, sie seien „schlimmer als die Schlangen und Skorpione“, die deutsche Frauenbeauftragte hatte kein Nachsehen, wenn sie das Macho-Gehabe beobachtete.

Sie bekam Krebs. Im nicaraguanischen Dorf setzte sie keine Perücke auf, die Kinder liefen hinter ihr her und lachten. Sie lachte mit ihnen. Dann wuchsen die Haare wieder, es ging ihr blendend, einen Moment noch.

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