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Berlin: Erinnerung an einen Duft

Berlin in der Blockadezeit. Es ist kalt, es herrscht Not. Und doch keimt Hoffnung. Eine Familie in der Spielhagenstraße feiert Weihnachten. Es gibt Gänsebraten, den ersten seit 20 Jahren – und am Baum brennen Wachskerzen. Die Schauspielerin Edith Hancke erzählt aus dem Jahr 1948

„Es ist die Gans.“ Die Schauspielerin Edith Hancke schließt kurz die Augen und lächelt. Sie sieht den Vogel vor sich. Wie er auf dem großen Teller liegt, so knusprig zubereitet, einen Duft verbreitend, der weit ins Treppenhaus reicht und jeden Nachbarn neidisch machen müsste. Gibt es Rotkohl dazu? Egal.

Ediths Vater und Mutter sitzen am Tisch, der Vater hat Tränen in den Augen. Es ist die erste Gans seit langer, langer Zeit. Die kleine Familie feiert endlich wieder ein normales Weihnachtsfest im Mietshaus an der Spielhagenstraße in Charlottenburg, vierter Stock. Weihnachten 1948. Es ist diese Gans, an die sich Edith Hancke spontan erinnert, als sie an die Zeit vor 55 Jahren denkt. An ein ärmliches und doch so hoffnungsfrohes Fest.

Es ist Blockadezeit, „Rosinenbomber“ bringen Nahrungsmittel in die isolierte Stadt, die Luft dröhnt vom Motorenlärm. Noch herrscht überall Mangel. Das neue Geld für die Westsektoren, zu denen Charlottenburg gehört, ist knapp. Die ganze Stadt friert erbärmlich, wärmt sich aber wenigstens an der Freude aufs Weihnachtsfest. Auch die große elterliche Wohnung mit dem langen Korridor ist klirrend kalt am 24. Dezember.

Kohlen sind rar und der Tiergarten gibt auch nichts mehr für den Ofen her, ist seit den frühen Nachkriegsjahren fast abgeholzt. Es sieht nach einem sehr traurigen Fest aus, äußerlich. Aber im Inneren sind die meisten Berliner, wie Edith Hancke, froh, langsam wieder zum normalen Leben zurückzufinden. Und im elterlichen Haus winkt die Gans wie der Stern von Bethlehem.

„Vater und Tochter werden um fünf in die Kirche geschickt, weil Mama ungestört das Essen vorbereiten will“, erinnert sich Edith Hancke und lacht. „Dort hat uns der Pfarrer gleich zusammengestaucht, weil wir uns nur einmal im Jahr, eben Weihnachten, blicken lassen.“ Beide geloben Besserung. Den Vater überkommt in der Kirche am Gierkeplatz die Rührung. Es wird ihm bewusst, wie schwer die Zeit war, die hinter ihnen liegt.

Und dann sind die beiden schon wieder zu Hause, wo die Gans duftet. Aber Mama treibt die Spannung auf die Spitze, setzt sich erst mal ans Klavier, singt Weihnachtslieder und Edith muss tapfer mithalten, immerhin hat sie Gesangsunterricht. Bis endlich der lang ersehnte Höhepunkt erreicht ist, das Festessen. Die Gans hat Ediths Mutter von Bekannten aus Paulinenaue bei Nauen mitgebracht. Den Ort hat die Familie bei „Hamsterfahrten“ nach Kriegsende kennen gelernt. Hungrige Großstädter fuhren aufs Land, tauschten Hausrat gegen Lebensmittel ein. Aber eine Weihnachtsgans hatte es seit Jahren nicht mehr an die Spielhagenstraße verschlagen.

Außer dem Braten gibt es zum Fest tatsächlich noch das passende Ambiente: einen Weihnachtsbaum, der auch aus Paulinenaue stammt, für Edith Hancke gleichbedeutend mit dem nahen Paradies. Die Kugeln für den Baum sind sowieso im Haus, aber es gibt diesmal nach langer Zeit auch wieder richtige Kerzen aus Wachs. Als sie brennen, wird es wärmer im Wohnzimmer, alle kämpfen mit den Tränen. „Das vergesse ich nicht“, sagt Edith Hancke. Dann scheint es sogar noch eine Extraration Strom zu geben, was zu den abendlichen Stunden nicht selbstverständlich ist. Ein Weihnachtsgeschenk des Elektrizitätswerks? Nicht nur die Kerzen brennen, auch die Lampen im Zimmer. Es ist an diesem Abend so hell wie lange nicht mehr.

Die junge Frau, die wenige Jahre später als Schauspielerin mit unverwechselbarer Berliner Kodderschnauze berühmt werden sollte, ist damals gerade 20 Jahre alt. Als Elevin einer Schauspielschule an der Wilmersdorfer Wilhelmsaue ahnt sie 1948 nichts von der Karriere, von ihrem ersten Defa-Film „Der Biberpelz“ schon im nächsten Jahr, wo sie natürlich Ost-Geld verdient, weil er im Osten, in Babelsberg gedreht wird.

In Berlin führt sie der tägliche Weg an Ruinenlandschaften vorbei, an Straßen, die sich aber mehr und mehr beleben. Beim Fischgeschäft „Rogacki“ an der Wilmersdorfer Straße fangen sie schon wieder mit dem Verkauf an. Auch das gehört zu den Erinnerungen Edith Hanckes an Weihnachten 1948 – vor allem aber die „unvergessliche, schönste Gans aller Zeiten“.

Christian van Lessen

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