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Berlin: Ernst Müller, geb. 1918: Das Trauma von Auschwitz verfolgte den Überlebenden wie ein Schatten

Ernst Müller hat viele Menschen in den Tod gehen sehen. Güterzügeweise.

Ernst Müller hat viele Menschen in den Tod gehen sehen. Güterzügeweise. "Bub, sei stark", sagte seine Mutter, als er sie das letzte Mal sah. Das war am 20. Januar 1944. Dann wurde sie ermordet. Wie sein Vater, dessen Leiche er auf einem Holzkarren wegschaffen musste. Eineinhalb Jahre war Ernst Müller Häftling im Konzentrationslager Auschwitz, stand an der Rampe im Außenlager Birkenau, der Endstation des nationalsozialistischen Massenmordens. Er überlebte. Durch den Zufall, der ihn verschonte und zugleich verurteilte - zu leben, danach.

Er blieb verfolgt von dem Trauma, das seinem Leben wie ein Schatten nachhing. "Ich war ständig auf der Flucht vor mir selbst", sagte Ernst Müller 1997 im Tagesspiegel. Phantome jagten ihn, Uniformen und Hunde lösten Panikattacken aus, ziellos reiste er herum, gehetzt von Erinnerung. Ärzte nannten es das Auschwitz-Syndrom. Erst in den letzten Lebensjahren, nach zwei Herzinfarkten, erzwang der geschwächte Körper Schonung. Sein Geist blieb rastlos. Im "Haus der Wannseekonferenz" hielt er Vorträge über die Zeit im Konzentrationslager, setzte sich für die Entschädigung von Zwangsarbeitern ein, stritt bei Diskussionen, wie etwa im Juni 1999 an der Seite Martin Walsers gegen das Holocaust-Mahnmal in Berlin. Das Geld dafür, fand der Auschwitz-Überlebende, könne sinnvoller angelegt werden.

Ernst Müller wurde am 22. Februar 1918 in Troppau im damals noch österreichischen Sudetenland geboren. Er wuchs in Prag auf, wo er im Januar 1941 mit seinen jüdischen Eltern verhaftet und nach Theresienstadt gebracht wurde. Ein Jahr nach der Ermordung seiner Mutter, am 20. Januar 1945, verließ Ernst Müller Auschwitz mit einem der letzten Evakuierungstransporte. 2000 von 8000 Häftlingen überlebten die Fahrt. Ernst Müller kam ins Konzentrationslager Mauthausen, arbeitete in einem Stollen unter Tage, bis ihn die Amerikaner befreiten. Ein ärztliches Gutachten des Landesamtes für zentrale soziale Aufgaben fasst sein Leben in sechs Zeilen zusammen: "Unauffällige Geburt und frühkindliche Entwicklung. Kinderkrankheiten: Mumps, Diphtherie und Scharlach. 1941-43 in Theresienstadt, damals Tuberkulose, Fleckfieber, Bauchtyphus. 1943-45 in Auschwitz: Tuberkulose, Ruhr, zentralbedingte Tetanie. Ab 1945 Auschwitz-Syndrom (Depressionen, Phobien, paranoide Zustände). 2 Herzinfarkte 1988 und 1993."

Insgesamt 22 Jahre hat Ernst Müller nach dem Krieg in Krankenhäusern verbracht. Zahlreiche Gutachten listeten seine Gebrechen seitenweise auf. Dennoch weigerte sich das Berliner Versorgungsamt jahrelang, ihn als 100 Prozent schwerbehindert anzuerkennen. Ernst Müller lebte von Sozialhilfe.

Im Schatten der Angst

Nach dem Krieg blieb er ein Fremder, überall. Seine Staatsangehörigkeit war ungeklärt, Zeit seines Lebens reiste er mit einem Fremdenpass. In Wien studierte er Medizin und Biochemie. Mitte der fünfziger Jahre lebte er für kurze Zeit in Israel. Er vertrug das Klima nicht, kam nach Italien in eine Lungenheilanstalt. Anfang der sechziger Jahre sagte Ernst Müller als Zeuge im Frankfurter Auschwitz-Prozess aus. In Griechenland lernte er Mitte der siebziger Jahre die Tochter eines evangelischen Konsistorialrats kennen. Sie heirateten, zogen nach Bad Nauheim; der erste feste Wohnsitz, die erste feste Anstellung.

Doch das Trauma holte ihn ein. Wie aus dem Hinterhalt kam der Schatten über ihn. Jahre vergingen, ohne die Anfälle, ohne die panische Angst, bis es plötzlich wieder geschah. So wie am 2. Oktober 1982. Auf einer Straße in Bad Nauheim sah er zwei Polizisten mit einem Schäferhund. Die Angst packte zu. Müller verschwand, ohne seiner Frau ein Wort zu sagen, flüchtete nach Frankfurt, nach Madrid, nach Rom, nach Israel. Zu seiner Frau kehrte er nie zurück. Im Rückblick sprach er vom "größten Fehler meines Lebens".

Ernst Müller driftete ab in illegale Geschäfte. Er kaufte sich eine Kinderdruckerei, fälschte Dokumente. Auf Madeira betrog er deutsche Touristen, verschob am Zoll vorbei Autos oder vermittelte herrenlose Grundstücke. Schließlich flüchtete er wieder, wechselte die Namen. Anfang der neunziger Jahre strandete er in Berlin. Der zweite Infarkt, der letzte Fluchtversuch: Weil er sich mit falschen Papieren nicht ins Krankenhaus traute, machte er sich erneut davon. In Bozen brach er zusammen und beschloss, nach Berlin zurückzukehren, sich der Polizei zu stellen. 1995 verurteilte ihn ein Gericht wegen Betruges zu zwei Jahren Haft. In der Berufung wurde eine Bewährungsstrafe daraus.

"Ich bin jetzt Gott sei Dank ruhiger geworden, als ich es jemals war seit 1945", sagte Ernst Müller drei Jahre vor seinem Tod. Wenn es für einen Mann wie ihn überhaupt so etwas wie ein Zuhause geben konnte, dann hatte er es in Berlin zuletzt gefunden. Auf seinem Balkon in Schöneberg zog er Tomaten, in seiner Wohnung reihten sich Leitz-Ordner, in denen er Material über seine Geschichte und Dokumente sammelte, die vom Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit zeugten.

Worte für das Unsagbare

Noch mit 80 Jahren legte sich Ernst Müller einen Computer für seine umfangreiche Korrespondenz zu, erzählt Lore Kleiber, die ihn als Dozentin im Haus der Wannseekonferenz kennen lernte. "Darüber hat er sich gefreut wie ein Kind." Ein "sehr humorvoller Mann" sei er gewesen, ein "Büchermensch" mit "Sinn für spitzfindige Formulierungen". Ernst Müller, der acht Sprachen beherrschte, wollte nicht schweigen wie viele Überlebende des Holocaust, denen das Unsagbare die Lippen verschloss. "Ich habe mich immer gefragt, woher er die Kraft nahm, darüber zu sprechen und die Tränen zurückzuhalten", sagt Lore Kleiber. 1996 sprach Ernst Müller viereinhalb Stunden mit dem Interviewer der Shoah Foundation von Steven Spielberg. Den Dankbrief mit Spielbergs Unterschrift - "für Ihren unschätzbaren Beitrag, Ihre Kraft und Ihre geistige Großzügigkeit" - heftete Ernst Müller in einem seiner Ordner ab. Am 15. Oktober ist Ernst Müller gestorben. Die Erinnerung an das große Morden hat wieder eine Stimme verloren.

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