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Berlin: Erst das Kreuzchen und dann ab zum Buffet - In der russischen Botschaft weist ein roter Teppich den Weg zur Urne

Ein Sicherheitsmann spricht die Wähler diskret an, sobald sie das hohe schmiedeeiserne Tor passiert haben. Wer sich als russischer Staatsbürger ausweisen kann, darf den stalinistischen Prachtbau der Russischen Botschaft betreten.

Ein Sicherheitsmann spricht die Wähler diskret an, sobald sie das hohe schmiedeeiserne Tor passiert haben. Wer sich als russischer Staatsbürger ausweisen kann, darf den stalinistischen Prachtbau der Russischen Botschaft betreten. Hinter den weit geöffneten Eingangstüren weist ein durchgehender roter Teppich den Weg zur Stimmabgabe über breite Marmortreppen in den zweiten Stock. Die beiden Wahlurnen stehen unter dem meterhohen Glasmosaik mit den Kremltürmen.

Das Wahllokal in der Botschaft Unter den Linden ist eines von fünf im Bundesgebiet - und zweifellos das prächtigste. Viele Wähler fotografieren sich gegenseitig bei der Stimmabgabe - das bunte Mosaik im Rücken. "Für uns ist heute ein Feiertag", sagt Semjon Goldberg. Der Rentner emigrierte vor zwei Jahren mit seiner Frau aus St. Petersburg nach Berlin. "Aber wir sind noch ganz frisch hier", sagt Tatjana Litwinowa. "Uns tut es noch in der Seele weh, was in Russland passiert." Das Paar bekennt sich zur "Union der rechten Kräfte", einer Partei der "jungen Reformer" um Ex-Premier Sergej Kirijenko.

Sergej Babkin von der Berliner Wahlkommission erwartete eine hohe Wahlbeteiligung. Er selbst habe eine entsprechende "Kampagne" in russischsprachigen Zeitungen in Deutschland geleitet. Aber alle 32 000 russischen Staatsbürger, die im Einzugsbereich des Wahllokals wohnen, würden wegen der langen Anreise aus Brandenburgischen Gemeinden oder gar aus Mecklenburg-Vorpommern wohl kaum kommen. Dass der Krieg in Tschetschenien zu Wahlboykotten führen könnte, kann sich Babkin nicht vorstellen. Neugierig ist er, ob sich auch nach Berlin Wahlbeoabchter der OSZE verirren werden. "Wir sind bereit".

Eine junge Frau, Ehefrau eines Botschafts-Mitarbeiters, sagt, bei ihrer Wahlentscheidung habe der Krieg "keine Rolle gespielt". Die Meinung der Wähler sei da gar nicht gefragt. "Wenn mich allerdings jemand als Mutter gefragt hätte, gäbe es diesen Krieg nicht. Dort sterben unsere Kinder", sagt die Frau. Das Wahlbündnis, für das sie gestimmt habe, wolle die Renten heben und die Gesundheitsvorsorge verbessern.

Die russischen Wähler in Berlin sind offen und freundlich. Viele diskutieren halblaut über das Angebot auf den Wahlzetteln, während sie auf einen freien Platz in den Kabinen warten. Georgij, Oleg und Aleksej, drei jungen Physikern aus St. Petersburg und Gästen der Freien Universität, macht der Gang zur Wahlurne sichtlich Spaß. "Zuerst werden wir unseren Beitrag zur Geschichte leisten", sagt Oleg mit einem ironischen Lächeln. Während seine beiden Freunde ihre Kreuzchen schon gemacht haben, hält er seine Stimmzettel noch ratlos in den Händen. Neunzig Prozent der Männer hinter den Wahlbündnissen seien "Clowns". Über Grigorij Jawlinskij und sein demokratisch-marktwirtschaftlich orientiertes Bündnis "Jabloko" (Apfel) könne man immerhin nachdenken. Als Oleg endlich seine Zettel in die Wahlurne stopft, macht Georgij ein Erinnerungsfoto.

"Und jetzt suchen wir das Buffet", verkünden die sportlichen jungen Männer in Jeans und Daunenjacken. Ein "Bufett" mit Wodka-Ausschank und einem kleinen Imbiss gehöre traditionell zu jedem russischen Wahllokal. Und wirklich - auch die Russische Botschaft hat in einem Nebengebäude eines eingerichtet. In einem hohen Saal mit schweren hochlehnigen Stühlen sitzen zumeist ältere Männer an den Tischen. Vor ihnen Biergläser, randvolle Wodkabecher aus Plastik, Pappteller mit Schnittchen und Piroggen. Reden die Menschen hier Tacheles? Schütten sie hier ihre Herzen über die Zustände in Russland aus? "Nein", sagt die Dame an der Kasse. "Sie schweigen. So eine Wahl ist eine Sache, die jeder mit sich selbst ausmachen muss."

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