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Berlin: Erst kommt die Moral, dann die Schule

Weil in Kreuzberg ein großer Teil der muslimischen Schüler aus religiösen Gründen nicht an Klassenfahrten teilnimmt, fallen die manchmal ganz aus

Das Problem ist bekannt: Muslimische Schüler nehmen aus religiösen Gründen nicht am Sportunterricht teil, an Sexualkunde, an Klassenfahrten – jetzt hat ein Bezirk erstmals eine Umfrage bei den Schulen gemacht. Eins der Ergebnisse: In Friedrichshain-Kreuzberg liegt die Ausfallquote der muslimischen Kinder bei Klassenfahrten teilweise bei 20 Prozent. Und da damit der Grenzwert von zehn Prozent aller Schüler übertroffen ist, fallen die Klassenfahrten in Einzelfällen ganz aus. „Die Dunkelziffer ist hoch“, sagt Gerhard Schmid, Leiter der Schulaufsicht von Friedrichshain-Kreuzberg. Viele Schulen planten schon keine Reisen mehr.

Eine präzise Gesamtzahl lässt sich aus dem Papier der Behörde zwar nicht herauslesen, da manche Schulen mit Prozentangaben oder Formulierungen wie „viele“ und „oft“ gearbeitet haben. Sie geht aber in die Hunderte. Dass Mädchen nicht an Ausflügen teilnehmen, weil die Eltern Angst haben, dass Jungen ihnen da zu nahe kommen und die Familienehre beschädigen, ist laut Gerhard Schmid „die Regel“.

Überrascht war Schmid von den Zahlen zum Biologie- und Sportunterricht. Hier entziehen sich viele Muslime, weil sie vor allem ihren Töchtern nicht zumuten wollen, ihre Haut zu zeigen oder in Sexualkunde Bilder nackter Menschen zu sehen. Im Internet können Eltern sich vorgefertigte Briefe ausdrucken, auf denen auch mit entsprechenden Gerichtsurteilen argumentiert wird. Von vielen der insgesamt rund 50 Fälle im Bezirk wusste die Behörde nichts. Und sie wären wohl auch nicht bekannt geworden, hätten nicht in der Bezirksverordnetenversammlung die Grünen eine Anfrage gestellt und so die Schulaufsicht zum Nachforschen gezwungen.

Die kam dann zur Erkenntnis, dass das Problem bisher viel zu lax behandelt werde. Beispiel Jens-Nydahl-Grundschule nahe dem Kottbusser Tor: Hier kommen laut Schulleitung „zwei bis sechs Schülerinnen“ nicht zum Sexualkundeunterricht. Biologielehrer seien als Schweine bezeichnet worden, heißt es. Schüler, die teilnehmen, würden gezielt stören. Schmid wundert sich: „Da hätten wir eingeschaltet werden müssen.“ Er weiß von der Praxis, Schüler während der Sexualkunde in Parallelklassen zu setzen. Aber das verstößt gegen die Schulpflicht. Anne Rühle, Sprecherin der Senatsverwaltung für Bildung, war gestern nicht in der Lage, die Tragweite des Problems einzuschätzen: Dazu fehlten Zahlen. Zur Schmids Forderung, die für ganz Berlin zu ermitteln, sagte sie: „Es wäre sinnvoll, das mal zu erheben.“

Rühle und Schmid sind sich einig: Gegen die Eltern muss Druck ausgeübt werden, bis zu einer Schulversäumnisklage, die in ein Bußgeld münden kann. Die müssten die Schulen aber selbst erstatten, was laut Schmid oft nicht geschieht. Bei den Klassenfahrten sieht es noch schlechter aus. Die fallen nicht unter die Schulpflicht, daher hat der Staat keine Handhabe.

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