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Berlin: Erwin Hennchen (Geb. 1953)

Das ist wie mit dem Fußball. Talent hat er, nur das Training nervt

Einen Bestseller wollte er schreiben, worüber, wusste er nicht. Nicht, dass er jemals ein Buch geschrieben hätte. Ihm gefiel einfach die Vorstellung, nie wieder arbeiten zu müssen, nur das tun zu können, was Spaß macht.

Erwin Hennchen machte vieles Spaß, wobei er da so seine Phasen hatte. Zuletzt war es das Fotografieren. Selbst als der Krebs bis in sein Rückenmark gekrochen war, und er wegen der Schmerzen weder stehen noch liegen konnte, suchte er den Blick durchs Objektiv. Ein Mal die Woche zog er mit seiner Freundin Gabi los. Zu Hause am Computer nachbearbeitet, stellte er die Fotos ins Internet und wartete auf die Kommentare der Community.

Mit Gabi ist er damals nach Berlin gekommen und mit Manfred, seinem anderen lebenslangen Freund. Manfred und Erwin waren zwei der knapp 700 Einwohner von Erdesbach in Rheinland-Pfalz und die Einzigen dort, die Ende der Sechziger lange Haare trugen.

Sie genießen ihr Leben, fürs Gymnasium bleibt wenig Zeit. Nach der mittleren Reife ist für Erwin daher Schluss, sehr zum Leidwesen der Eltern. Die haben ihn schon als Pfarrer gesehen. Nun soll er wenigstens die Handelsschule besuchen. Aber auch dafür fehlt ihm der Ehrgeiz. Das ist wie mit dem Fußball. Talent hat er, nur das Training nervt.

Manfred arbeitet inzwischen in einem Vermessungsbüro und besorgt auch Erwin einen Job. So kommt es, dass er eine Lehre zum Vermessungstechniker beginnt. Am Wochenende sind sie viel unterwegs, Gabi treffen sie nachts auf der Landstraße. Sie und eine Freundin wollen heimtrampen, Erwin und Manfred sitzen im Auto und nehmen die beiden mit.

Gabi und Erwin werden ein Paar. Mit Manfred und dessen Freundin beschließen sie Mitte der Siebziger, nach West-Berlin zu ziehen. Aber hier stellt sich manches als Illusion heraus. Die bezahlbaren Wohnungen sind zumeist heruntergekommen und ohne Toilette. Zu viert finden sie sowieso nichts. Erwin schreibt sich ein für ein Fachhochschulstudium zum Vermessungsingenieur. Und sattelt nach vier Semestern auf Sozialpädagogik um. Und wird nach dem Abschluss Taxifahrer. So kann er am besten seinen Hobbys nachgehen, eins davon ist Reisen, ausgiebiges Reisen. Mit der Liebe ist es zwar nach fünf Jahren aus, Gabi und er erkunden dennoch gemeinsam die Welt. Sie campen in Südfrankreich und wandern wochenlang durch Griechenland.

Erwin liebt das Unbekannte, und er scheut sich davor. Als die erste Indienreise gebucht ist, sucht er nach Gründen, sie wieder abzusagen. Losfahren kostet ihn Überwindung – wenn er unterwegs ist, ist alles gut. Fremde Menschen zieht er an wie ein Magnet.

Anfang der Achtziger lernen Gabi und er in Nepal Sigrun und Siegfried kennen, ein paar Wochen später treffen sie sich erneut auf Goa. Zurück in Berlin verlieben sich Sigrun und Erwin ineinander, nach und nach zieht er bei ihr ein. Seine Wohnung behält er vorerst, er muss sich zurückziehen können. Am liebsten wäre er Einsiedler am Himalaya, das erzählt er zum Amüsement seiner Freunde: Dieses Plappermaul in einer einsamen Höhle?

Wenn Erwin jemanden kennenlernt, lädt er ihn zu sich nach Hause ein, dort fühlt er sich am wohlsten. Er zeigt seine Fotos, spielt Musik aus seiner großen Sammlung vor und verteilt Videos, die man sich unbedingt angucken soll.

Manfred, inzwischen studierter Vermessungstechniker, holt Erwin 1994 in seine Firma. Und als Manfred ein paar Jahre später Partner in einem großen Vermessungsbüro wird, sorgt er dafür, dass sein Freund dort ebenfalls eingestellt wird.

1995 bringt Sigrun Lorenzo zur Welt, ein paar Jahre später folgt Paul. Stolz auf seine Söhne, spielt Erwin mit ihnen von klein auf Fußball. Ein Junge, da ist er sich sicher, hat es leichter, wenn er diesen Sport beherrscht. Vor allem der Ältere scheint sein Talent geerbt zu haben – und die Unlust, täglich zu trainieren.

Silvester 2003 fühlt sich Erwin nicht gut. Am Nachmittag geht er auf die Straße, kurz mal Luft schnappen. Als das Unwohlsein nicht verschwindet, beschließt er, weiterzugehen bis ins Krankenhaus. Er dreht sich noch eine Zigarette, bevor er zwischen den Rettungswagen zur Notaufnahme spaziert. Wo sie einen Herzinfarkt feststellen.

Nach dieser Erfahrung möchte Erwin die Familie absichern. 2005 heiratet er Sigrun. Fünf Jahre später dann die Hiobsbotschaft: Ein bösartiger Hauttumor. Erwin wird operiert und bestrahlt. Dann fangen die Rückenschmerzen an. Bis ein Arzt den Zusammenhang zum Krebs erkennt, vergehen Wochen. Da sind Bauchraum und Rücken längst mit Metastasen übersät. Allenfalls drei bis vier Monate werde er noch zu leben haben, sagen die Ärzte. Erwin trotzt dem Tod und verdoppelt seine restliche Lebenszeit. Der Preis sind unerträgliche Schmerzen, die er versucht, für sich zu behalten. Weil er nachts nicht schlafen kann, fährt er stundenlang mit dem Fahrrad über den leeren Ku’damm.

Zur Chemotherapie kommt er mit dem Bus. Er kauft sich neue Anziehsachen fürs nächste Frühjahr.

Ende März feiern sie Sigruns Geburtstag. Im Kreis von Freunden und Familie, seine geliebte Schwester ist auch gekommen, thront Erwin im Bett. Am Tag darauf lässt seine Kraft nach. Die Schmerzen werden immer unerträglicher, das Morphium wirkt nicht mehr. Zwei Wochen später ist er tot. Thilo Bock

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