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Berlin: Erzähl doch mal!

Renate Werwigk wurde aus DDR-Haft freigekauft. Heute berichtet sie Schülern von ihren Erfahrungen.

Am Schluss meldet sich Ahmad und möchte wissen, wie sie, die Kinderärztin, die da vorn an der Tafel steht, heute über „diese Zeit“ denkt? Fast zwei Schulstunden sind wie im Flug vergangen. Renate Werwigk-Schneider hatte über ihr Leben in der DDR gesprochen, ihre Fluchtversuche, die erst im Gefängnis, dann im Westen endeten. Spannend wie ein Krimi ist diese Geschichte eines Lebens in einem Staat, den es nicht mehr gibt. „Gut, dass heute jene, die dabei waren, ihre Erlebnisse schildern“, sagt die Deutschlehrerin Annett Nouri, die die Zeitzeugin in die Steglitzer Kopernikus-Oberschule eingeladen hatte. Die Zehntklässler sind gut vorbereitet, haben Opferberichte recherchiert, den Film „Das Leben der Anderen“ gesehen – aber erfahren hier zum ersten Mal aus berufenem Munde ein Menschenschicksal.

Dass Renate nicht in der DDR leben wollte, den Staat hasste, ist das Resultat ihrer Erlebnisse und Erfahrungen. Die Tochter aus einem bürgerlichen Elternhaus, der Vater war Pfarrer und Arzt, passte nicht in das Land einer „Diktatur des Proletariats“. Sie wurden vom Staat gemobbt, sagt sie. 1953 sollten alle, die zur Jungen Gemeinde der Evangelischen Kirche gehörten, die Oberschule verlassen. „Schon damals gab es eine in unserer Klasse in Königs Wusterhausen, die ihre Beobachtungen, ob einer Rias hört oder Westklamotten trägt, in einem Heft notierte und wahrscheinlich weitergab.“ Nach dem 17. Juni 1953 wurde das Schulverbot aufgehoben, Renate machte das Abi mit 1,0, durfte aber nicht Medizin studieren: Sie war weder Arbeiter- noch Bauernkind. Der Vater protestierte, mit Erfolg. Doch nach vier Semestern Medizin an der Humboldt-Universität wurde Renate exmatrikuliert, weil sie alle politischen Fächer mied. „Aber was hat Marxismus-Leninismus mit Kinderheilkunde zu tun?“

Als die Mauer gebaut wird, ist Renate Werwigk 23 Jahre alt. 18 Millionen Menschen sitzen in der Falle, viele arrangieren sich, manche nie. „Wer lebt schon gern eingesperrt und kommt nirgends hin?“ Ihr Bruder kriecht in der Silvesternacht 1962 unter dem Stacheldraht nach West-Berlin und verspricht, die Familie nachzuholen. Einige Monate später beginnt dieses Abenteuer: West-Berliner Studenten haben einen Tunnel gegraben, aber es gibt einen Verräter: Renates Familie wird verhaftet. Die angehende Ärztin verbringt ihren 25. Geburtstag in Isolationshaft in Hohenschönhausen, dann wird sie zu zweieinhalb Jahren verurteilt und kommt erst nach Rostock, dann nach Frankfurt/Oder. 1965 erlässt die DDR eine Amnestie.

„Ich will in diesem Staat nicht mal beerdigt sein!“ Mit dem Satz schockte Renate Werwigk wohl auch den DDR-Anwalt Wolfgang Vogel, der ihr helfen sollte, in den Westen zu kommen. Er sah nur eine Möglichkeit: Sie sollten sich noch einmal einsperren und dann freikaufen lassen.

Renates Mut war größer als ihre Angst. Der West-Bruder besorgte der Schwester und ihrem Freund einen bundesdeutschen Pass, von Varna in Bulgarien wollten sie mit einem Ausflugsschiff nach Istanbul fahren. Doch die Linie war eingestellt worden. Also wurde ein Taxi zur türkischen Grenze geordert. Doch dort schlottert der Fahrer derart, „dass die Posten den Braten riechen“.

Erneute Haft also, erst in Hohenschönhausen, dann für drei Jahre und sechs Monate Zuchthaus und eine Reise ins berüchtigte Frauengefängnis Hoheneck, wo die Kinderärztin als Schikane mit Kindesmörderinnen zusammengesperrt wurde.

Nach einem Jahr hatten die Aktivitäten von Anwalt Vogel hinter den Kulissen der Macht Erfolg: Ein Auto fuhr Renate Werwigk zum Grenzübergang Herleshausen, vier Männer stiegen aus einem schwarzen West-Auto und ein Koffer mit 100 000 D-Mark wechselt den Besitzer. Sie baute sich eine Praxis auf und arbeitete 26 Jahre als Kinderärztin.

„Das war’s“, sagt Renate Werwigk-Schneider am Schluss, „Ihr seht, ich habe mich nie aufgegeben.“ Die Klasse klatscht. „Ich wollte Sie ermuntern, dass Sie ahnen, was es bedeutet, wenn man lesen, schreiben und sagen kann, was man will. Sie leben in einem freien Land. Seien Sie dankbar dafür – und machen Sie das Beste draus.“

Büsra, Christian, Jacob, Benjamin und Ahmad haben viele Fragen. Hatten Sie eine Stasi-Akte? „Mit 1000 Seiten.“ Gab es auch schöne Dinge in der DDR? „Vieles Private war schön, wir haben zusammen gefeiert, uns gegenseitig geholfen.“ Gab es Folter? „Nein, mehr psychische Folter, wenn man sechs Wochen in Einzelhaft sitzt und nicht weiß, was draußen los ist.“ Können Sie denen, die Sie eingesperrt haben, vergeben? „Das fällt schwer. Ich versuche, sie nicht zu hassen, obwohl sie uns wie Staatsfeinde behandelt haben.“

Die Lehrerin ist stolz auf die Klasse: Der Gast fand sie „spontan, interessiert, aufgeschlossen“. Renate Werwigk geht seit 2004 in Schulen und hat dabei auch ganz andere Erfahrungen gemacht. Im Osten werde zu oft „gemauert“, sagt sie, die Schüler hörten zu Hause, dass alles „gar nicht so schlimm“ gewesen sei. Im Westen sei die Neugier groß. Am liebsten hat sie Klassen, „die offen und provokativ mit mir diskutieren“. Lothar Heinke

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