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Ethik und Religion: Auf dem Lehrplan steht immer Toleranz

Muslime diskutieren mit einem evangelischen Lehrer über christliche Symbole. So kann Religionsunterricht aussehen. Einwandererkinder machen sich Gedanken über Lügen und Fairness. So kann Ethikunterricht aussehen. Ein Bericht aus zwei Schulen in Charlottenburg.

Religionsunterricht an der Elisabeth-Realschule in Charlottenburg

Arif weiß Bescheid. Der Lehrer stellt eine Kerze, ein Kruzifix und einen Schoko-Hasen auf den Overhead-Projektor. "Die Kerze, klar, steht für Licht, Hoffnung, Auferstehung", ruft Arif von der letzten Bankreihe durch die Klasse. Arif ist 16 Jahre alt und Muslim - wie auch die meisten anderen seiner 18 Mitschüler, die an diesem frühen Nachmittag im evangelischen Religionsunterricht sitzen. In der Elisabeth-Realschule in Charlottenburg sind nur wenige Jugendliche Christen. "Evangelischer Religionsunterricht heißt doch nicht, dass die Kinder evangelisch sein müssen", sagt Religionslehrer Martin Wein, "sondern dass der Lehrer evangelisch ist." Wein ist Diplom-Theologe und bei der Kirche als Religionslehrer angestellt.

Dem Religionsunterricht wurde in den vergangenen Monaten gerne vorgehalten, dass er den Klassenverband spalte anstatt zu einen, weil er die Schüler nach Religionszugehörigkeit auseinanderdividiere. Dem Ethikunterricht wurde vorgeworfen, er könne keine Werte authentisch vermitteln, das könne nur ein Religionslehrer. Wer sich in den Klassenräumen umschaut, merkt schnell, dass das Leben bunter ist, als es die Initiativen "Pro Ethik" und "Pro Reli" suggerieren. Natürlich gestalte er den Religionsunterricht nicht als rein christliche Veranstaltung, sagt Martin Wein. Zum einen, weil es wie im Ethikunterricht um allgemeine Themen gehe wie Identität und Freundschaft. In der siebten Klasse sei das Christentum Schwerpunkt, in der achten aber der Islam, in der neunten und zehnten gehe es um Judentum und Buddhismus. Gemeinsam besuchen sie eine Kirche, eine Mosche, eine Synagoge oder das Jüdische Museum.

So kommt es, dass in dieser Stunde vor Ostern, als es um das christliche Opferlamm geht, ein muslimischer Schüler in der 10a die für einen 16-jährigen Realschüler doch erstaunliche Schlussfolgerung ziehen kann: "Alle drei abrahamitischen Religionen haben einen Opferkult, das fällt voll auf." "Ey, stimmt", sagt sein Nachbar und erinnert sich an Isaak, der seinen Sohn opfern wollte. Ein Mädchen ruft: "Und wir Muslime feiern das Opferfest."

Die jetzigen Zehntklässler sind der letzte Jahrgang, der noch keinen Ethikunterricht hat. Die Jugendlichen der 10a können sich auch nicht vorstellen, dass der zu etwas gut sein könnte. Can sagt: "Wir sind gegen Ethikunterricht, der geht bei den Religionen nicht so in die Tiefe." Der Religionsunterricht muss, so steht es im Grundgesetz, bekenntnisorientiert sein - im Gegensatz zum bekenntnisfreien staatlichen Ethikunterricht. Während der Ethiklehrer also sagen muss: "Die Christen glauben, dass Jesus auferstanden ist", könnte Religionslehrer Martin Wein sagen: "Ich glaube, dass Jesus auferstanden ist." Das sagt er aber nicht. Er ist zwar evangelischer Theologe, aber keiner, der sich auf die christliche Brust trommelt und sagt: "Ich, ich, ich." Er erzählt lieber von der Osternacht, wie sie seine Frau, eine orthodoxe Christin feiert. In seinem Unterricht wird auch nicht gebetet, in der siebten Klasse kann, wer möchte, das "Vaterunser" auswendig lernen. "Glaubensvermittlung ist nichts für die Oberschule", sagt Wein, da gehe es um Wissen, und ums Diskutieren und Argumentieren.

Von Bekenntnisorientierung ist in dieser Religionsstunde deshalb nicht viel zu hören. Außer in dem Moment, als ein muslimisches Mädchen ausflippt, als Arif, ebenfalls beim Thema Opfern, sagt, dass es "so bekloppte Muslime" gebe, die sich selbst opfern würden. "Was fällt dir ein", schreit sie ihm ins Wort, "es gibt keine bekloppten Muslime!" Die anderen Mädchen reden ihr beschwichtigend zu, Wein geht nicht näher darauf ein. Nach dem Unterricht erzählt er, dass sie die Tochter palästinensischer Eltern sei und in einem strenggläubigen, auch streng antisemitischen Haushalt aufwachse. Es sei schwierig gewesen, sie zum Besuch des jüdischen Museums zu bewegen. Letztlich habe er es nur mit Druck geschafft.

Martin Wein hat die Haare zu einem Zopf gebunden und sieht nicht aus wie eine Autorität, die muslimischen Jungen die Stirn bietet. Und doch respektieren sie ihn. Manchmal geht es zwar laut zu in der Stunde, na ja, man könnte auch sagen: lebhaft. Es ist immerhin schon die siebte Unterrichtsstunde, und fast alle machen mit. Was ihnen zu Ostern einfällt, will Wein am Anfang wissen. Es fallen die Stichworte Hase, Ei, Ostersonntag, Kreuz. Dann sollen die Schüler die Begriffe sortieren in Frühlingssymbole und christliche Symbole. Das gelingt den meisten. Der Hase erinnert die Jungen an die Zeitschrift "Playboy". Dass das nichts mit der Kirche zu tun hat, wissen alle.

In den restlichen zwanzig Minuten geht es um das Kruzifix und die Kerze mit den Buchstaben Alpha und Omega, die Wein mitgebracht hat. Wein fragt das Wissen der Jugendlichen ab und ergänzt, immer wieder mit Ausflügen in die anderen Weltreligionen. "Es hilft den muslimischen Jugendlichen, wenn sie wissen, dass Jesus als Prophet auch im Koran auftaucht", sagt Wein, "dass auch sie guten Gewissens Weihnachten feiern können." Damit dieses multireligiöse Wissen auch im Ethikunterricht an der Elisabeth-Realschule nicht zu kurz kommt, ist Martin Wein in vielen Ethik-Stunden dabei. "Wir wollen aber auch weiterhin den Religionsunterricht stärken", sagt die Schulleiterin. Kollege Wein mache eben einen so guten, integrativen Unterricht. Religionsunterricht oder Freizeit, das war sowieso noch nie die Alternative an der Elisabeth-Realschule. Wer nicht zu "Reli" wollte, musste in der Parallelklasse zu Mathe oder Deutsch.

Ethikunterricht an der Oppenheim-Hauptschule in Charlottenburg

Für Ricardo läuft es nicht gut in der Schule. Und doch wird er gelobt. "Ricardo hat letzte Woche so gut mitgemacht", sagt seine Klassenkameradin. Ricardo, 12 Jahre alt, dunkle Haare, Kapuzenpulli und Jeans, lächelt verschämt auf den Boden. Er und zehn andere Schüler der 7d sitzen im Klassenzimmer der Oppenheim-Hauptschule in Charlottenburg. Sie sitzen auf Stühlen im Kreis. "Ich möchte Ricardo loben, weil er ganz toll seine Hausaufgaben gemacht hat", sagt Lehrerin Monika Münnich. Ricardo hebt die Schultern und richtet sich auf, bis er gerade sitzt. Dann sagt er: "Ich will das ganze Schuljahr so weitermachen."

Monika Münnich, eine robuste Frau mit kurzen grauen Haaren, unterrichtet seit 34 Jahren Deutsch, Geschichte und Englisch, seit zwei Jahren auch Ethik. Sie nimmt einen gelben Stein in die Hand und fragt: "Was wünscht ihr euch für diese Woche?" Jeder, der etwas sagen möchte, nimmt den Stein in die Hand. Die Schüler kennen das schon. Sie wünschen sie sich lauter fromme Dinge: dass keiner stört, dass alle mitmachen. Aber zwei wünschen sich auch, dass Dominic sie nicht "von hinten anspringt" auf dem Pausenhof. Die Lehrerin wünscht sich, dass "ihr nicht immer eure Mütter beleidigt, wenn ihr euch streitet". Eine Fensterbank auf dem Schulflur haben Schüler zum Beispiel mit dem Spruch verziert "Ich ficke Deine Mutta". Die meisten Schüler der 7d kommen aus Einwandererfamilien aus der Türkei, dem Libanon, Jamaica, Italien. Der Ethikunterricht sei die einzige Gelegenheit in der Woche, sagt Monika Münnich, wo sie mit allen zusammen darüber reden kann, was in der Klasse gut läuft und was nicht. Das ist nicht relevant fürs Zeugnis, aber wichtig fürs Klima. Auch das ist wichtig: Dass die Kinder direkt angesprochen werden, gar gelobt. "Das erleben sie zu Hause selten", sagt die Lehrerin. Auch ihre Meinung sei zu Hause nicht gefragt. Wohl aber im Ethikunterricht.

Monika Münnich führt die 12- und 13-Jährigen zu einem Thema, mit dem wohl viele schon zu tun hatten: Lügen. In der vorhergehenden Stunde haben sie herausgefunden, dass sich auch Unwahrheiten in Schubladen sortieren lassen: die Höflichkeitslüge, die Peinlichkeitslüge, die Notlüge. Nun erzählt Münnich ein neues Beispiel: Ein Junge spielt am Sonntag lieber Fußball als Hausaufgaben zu machen. Am Montagmorgen schreibt er die Aufgaben von einem anderen ab. Bei der Hausaufgabenkontrolle wird zufällig der Abschreiber kontrolliert und bekommt eine 1, weil alles richtig ist. Auf die Frage, ob er das alleine gemacht hat, antwortet er mit Ja. "Ist das fair?", will Münnich wissen. Sie spricht schnell und lässt keinen Schüler aus den Augen. Wegdämmern, schwätzen ist nicht drin.

Ist unfair, sagt einer, schließlich habe der Abschreiber nichts für die gute Note getan. Ist nicht unfair, sagt ein zweiter, schließlich habe der Streber keinen Nachteil und werde bei der Klassenarbeit sowieso besser abschneiden. Ein dritter Junge sagt, er würde den Abschreiber verpetzen, wenn er ihn nicht leiden könnte. "Aha", sagt Monika Münnich, "und wenn er dein Freund wäre, würdest du nichts sagen?"

Die verbleibenden zwanzig Minuten sind schnell wegdiskutiert. Fast alle machen mit, die Mädchen manchmal unter Gekicher, die Jungen zum Teil mit rotem Kopf. Was Wahrheit ist, was Lüge, was Freundschaft, darum geht es. Vermutlich haben die meisten in dieser Stunde zum ersten Mal so intensiv darüber nachgedacht. Die Einsichten, die ihnen Monika Münnich scheinbar zufällig entlockt, folgen strikt dem Rahmenlehrplan. Für die siebte Klasse sind die Themen Identität, Gewissen, Freundschaft vorgesehen. "Wer bin ich?" "Bin ich jeden Tag derselbe?" Wer sind die anderen in der Klasse?

Die Kinder sollen dabei ihre Wahrnehmung schulen, die Sichtweise anderer tolerieren, argumentieren und im Idealfall auch ihr Verhalten ändern. Monika Münnich wird mit ihrer Klasse auch eine Kirche besuchen, eine Synagoge und eine Moschee. Die Weltreligionen stehen auch im Ethikunterricht auf dem Lehrplan - als etwas, worüber es sich lohnt, Bescheid zu wissen. Im Unterschied zum Religionsunterricht, wo es nicht nur ums Wissen, sondern auch ums Glauben geht, wo gebetet werden darf und der Lehrer als gläubiger Mensch gefragt ist.

In manchen Klassen habe sich die Stimmung durch den Ethikunterricht merklich gebessert, sagt der Schulleiter, in anderen nicht. Der Ethikunterricht alleine könne das Schulklima nicht retten. In der Oppenheim-Schule ist die Haustür verschlossen, während der Unterricht läuft. Wer zu spät kommt, bleibt draußen. Auch das habe zur Besserung des Klimas beigetragen und mehr Ruhe gebracht.

In der achten Klasse kommt meistens eine Pfarrerin mit in den Ethikunterricht. Das Miteinander funktioniere sehr gut, sagt der Schulleiter, der selbst die Achte in Ethik unterrichtet. Für ihn ist das der Idealfall. Von getrenntem Religions- und Ethikunterricht hält er ebenso wenig wie Kollegin Münnich. Denn dann würden die Klassen getrennt, die auch so schon schwer zusammenzuhalten sind. Denn auch in der Charlottenburger Schloßstraße kommen immer mehr Kinder in die Hauptschule, die Konflikte mit der Faust austragen, sich nicht konzentrieren können oder chronisch unter mangelnder Liebe leiden. Wenn die Klasse gar zu zappelig sei, mache er mit den Kindern im Ethikunterricht Entspanungsübungen, sagt der Schulleiter. Selbst die groben Jungen würden dann manchmal sagen: "Jetzt geht's mir richtig gut." 

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